NRW-Innenminister sieht zunehmenden Hass gegen Religionsgemeinschaften

"Das ist ein schleichendes Gift"

Religionsgemeinschaften werden immer häufiger Ziel von Attacken. NRW-Innenminister Herbert Reul findet keine Erklärung dafür. Er macht aber eine Tendenz in der Gesellschaft aus, die ihm Sorgen bereitet. Stichwort "Regeln befolgen".

Herbert Reul / © Ralph Sondermann (Innenministerium NRW)

DOMRADIO.DE: Besonders Repräsentanten von Religionsgemeinschaften sind Ziel der Gewalt. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Herbert Reul (NRW-Innenminister): Nein, wenn ich ehrlich bin, nicht. Man kann das zumindest nicht so einfach erklären, sondern da spielen eine Menge Faktoren eine Rolle. Also, dass Menschen gegen Menschen, die eine bestimmte Auffassung haben, eher rebellieren als gegen Menschen, die keine Meinung haben, das kann ich nachvollziehen.

Das Zweite ist, wir haben insgesamt im Netz und auch im Umgang untereinander eine, ich meine, andere Umgangsform. Man diskutiert nicht, man streitet auch nicht, sondern es werden direkt Hasstiraden verbreitet.

DOMRADIO.DE: Gerade online im Netz.

Reul: Ja. Ich glaube, dass das Netz das Hauptproblem ist. Also ohne, dass ich da was wegschieben will. Aber da kann man ungestraft alle Frechheiten dieser Welt und allen Hass dieser Welt verbreiten. Wenn man dann auch noch geliked wird, fühlt man sich auch noch bestätigt.

So ist es ja in vielen Fällen passiert. Du machst da eine unmögliche Aussage, kriegst 100 Likes und meinst dann, du hättest recht. Und dann kommen manche noch und gehen raus und handeln auch so.

DOMRADIO.DE: Das sind erst einmal verbale Gefechte. Wie könnte man hier schon ansetzen, damit es nicht zu weiteren Taten im wirklichen Leben kommt?

Reul: Es ist eines von den Problemen, die man nicht leicht lösen kann. Das Eine ist natürlich Aufklären, Information, Erziehung, Bildung. Ich finde, wir müssen viel mehr darüber nachdenken, wie es dazu kommt. Zweitens: Das Netz braucht natürlich Regeln. Ich verstehe nicht, wie man einen Raum zulässt, wo jeder alles Mögliche verbreiten kann, ohne dass es sanktioniert wird. Ich glaube, dass die Politik da Handlungsbedarf hat.

Das ist allerdings nicht so einfach, weil das Netz als das Reich der Freiheit verstanden worden ist, sich so entwickelt hat und jeder Eingriff jetzt fast als Majestätsbeleidigung verstanden wird. Auf der Straße käme keiner auf die Idee zu sagen: Wir schaffen mal alle Verkehrsregeln ab. Das sieht jeder ein. Ich glaube, daran liegt es ein Stück. Und dann brauchen wir natürlich Instrumente von der Polizei, um auch ermitteln zu können,

DOMRADIO.DE: Besonders jüdische Einrichtungen und Vertreter des Judentums sind oft Ziel von Hass und Gewalt geworden. Laut aktueller Statistik des Bundeskriminalamtes gehen 70 Prozent solcher Anschläge in Deutschland gegen Juden. Andere Religionsgemeinschaften sind demnach weniger betroffen. Woran könnte das liegen?

Reul: Solange man in die Geschichte zurückblickt, gab es diesen Hass auf Juden und diesen Antisemitismus immer wieder. Unterschiedliche Vorwände, unterschiedliche Situationen. Wir hatten in Nordrhein-Westfalen im letzten Jahr 284 Straftaten dieser Art. Das ist schon eindrucksvoll und beunruhigend.

Da gibt es auch wieder verschiedene Quellen. Es gibt linksextremistische, antisemitische Hetze. Es gibt Rechtsextremisten, die kennen wir in Deutschland, die haben ja auch einen historischen Hintergrund.

Und es gibt verstärkt jetzt auch Antisemitismus, der von Menschen reingetragen wird, die aus anderen Staaten, aus anderen Welten zu uns kommen, würde ich fast sagen, von Menschen, die aus dem arabischen Raum kommen und für die es eine Selbstverständlichkeit ist, dass die Juden der Feind sind. So sind die groß geworden, so sind die sozialisiert worden und das Spiel machen die hier einfach weiter.

Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist, ob wir eigentlich genug tun, um denen nicht nur deutsche Sprachkenntnisse beizubringen, sondern auch ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass bei uns andere Wertvorstellungen herrschen und dass, wer hier lebt und leben will, sich an diesen Wertvorstellungen ausrichtet. Denn Juden und Deutsche, das ist was ganz Besonderes.

DOMRADIO.DE: Deshalb haben sie auch vor einer Woche gesagt: "Das kann nicht so sein“. Was tun Sie?

Reul: Die Hausaufgabe wird wahrscheinlich ein Innenminister am wenigsten lösen können. Wir können ermitteln, wir können bestrafen, wir können nachgehen und damit ein Signal geben. Das ist die Ebene, die die Polizei machen kann. Das heißt: ermitteln. Wir haben in dem Gelsenkirchener Vorgang (Am 12. Mai kam es vor einer Synagoge in Gelsenkirchen zu einer unangemeldeten Demonstration mit ungefähr 180 Personen, die judenfeindliche Parolen riefen. Die Polizei beendete die nicht angemeldete Veranstaltung erst nach zwei Stunden, Anm. d. Red.) insgesamt mittlerweile 50 Menschen in den letzten zweieinhalb Wochen ermittelt, die solche antisemitischen Straftaten begangen haben. Das ist schon gar nicht schlecht.

Das heißt, das Ermitteln ist das Hauptproblem. Und dann müssen wir eben auch dafür sorgen, dass sie bestraft werden, dass sie vor Gericht kommen und dass es entsprechende Sanktionen gibt.

DOMRADIO.DE: Menschen, die eine Religion ausüben, werden oft als Quelle des Übels angesehen oder als Sündenbock dargestellt. Dabei macht sich die Mehrheit der Menschen aus den verschiedensten Religionsgemeinschaften für ein friedliches Zusammenleben stark. Was muss passieren, damit man dem entgegenwirken kann?

Reul: Verständnis erwecken, erklären. Ich glaube, man muss auch vielmehr deutlich machen, dass Hass und diese Form des Umgangs miteinander nicht akzeptabel ist und dass Regeln in einer Gesellschaft einen Sinn haben. Ich merke manchmal, dass sich die Leute hier für sich das Recht herausnehmen, wenn sie eine bestimmte Auffassung haben, auch mal über die Stränge schlagen zu können.

Nehmen Sie mal ein extremes Beispiel aus dem Clan-Milieu. Die glauben, sie könnten die Regeln in der Straße, in der sie wohnen, selbst bestimmen. Sie akzeptieren nicht, dass es ein Recht des Staates gibt. Das ist der Fortschritt der Zivilisation eines demokratischen Rechtsstaats.

Dasselbe Thema habe ich im Hambacher Forst, in dem Leute für eine gute Sache demonstrieren, für das Klima, sich aber das Recht nehmen, das auch mit Mitteln zu machen, die nicht rechtmäßig sind. Dasselbe machen die Antisemiten. Es ist egal wo sie hingucken, es gibt so eine Haltung in dieser Gesellschaft: Wenn ich eine Meinung habe und die ist gut, dann habe ich auch ein Recht darauf, sie durchzusetzen, notfalls auch mal über die Stränge zu schlagen. So fängt man ganz langsam an. Das ist schleichendes Gift. Das ist gefährlich.

DOMRADIO.DE: Was können denn Kirchenvertreter, aber auch Christen Ihrer Ansicht nach tun, um da zu unterstützen?

Reul: Position beziehen, abgrenzen, klar sagen, was geht und was nicht geht. Und werben, auch positiv werben für ein friedliches Miteinander. Aber auch der andere Teil gehört dazu. Auch sagen, was nicht geht. Es kann nicht jeder machen, was er will. Dann geht das Zusammenleben nicht, denn das ist Anarchie, das ist Chaos. Die Regeln, die wir uns in unserem Staat setzen, die macht ja nicht irgendein Zampano oder so, sondern das sind Volksvertreter, die gewählt werden. Wenn einem das nicht passt, kann man die auch wieder abwählen.

Das Tolle am Rechtsstaat zu verteidigen, haben wir ein Stück verlernt, weil jeder meint, wenn ich mal falsch parke, hat das schon einen Grund, das ist egal. Diese blöde Tante, die mich da aufgeschrieben hat, das geht doch nicht. Da fängt es mit an. Und ich finde, wenn für andere der Maßstab gilt und man sagt, die Polizei muss dafür sorgen, dass die Regeln eingehalten werden, dann muss man das auch für sich selber gelten lassen. Und wenn man mal eine bestimmte Auffassung hat und die mit anderen nicht übereinstimmt, muss man auch akzeptieren, dass das so benannt wird.

DOMRADIO.DE: Jetzt haben wir die Corona-Pandemie, eine Ausnahmesituation auch noch. Hier prallen verschiedene Meinungen immer wieder aufeinander. Welche Rolle spielen die Religionen denn da?

Reul: Das ist eine ganz schwere Frage. Ich weiß gar nicht, ob die eine spielen und welche sie spielen, aber sie könnten eine spielen. Wir diskutieren immer nur über den Zusammenhang, ob Gottesdienste stattfinden dürfen oder nicht stattfinden dürfen. Das ist das Einzige, was mir da einfällt.

Aber die mahnende Stimme von Kirchenvertretern, von Vertretern der Religionen, die sagen, aufeinander Rücksicht nehmen ist das, was wir jetzt machen sollen, aufeinander Rücksicht nehmen, achtsam sein, das Leben des anderen schätzen und achten, ist eine zutiefst christliche Einstellung. Es könnte eine Werbeveranstaltung für das Christentum werden.

DOMRADIO.DE: Wie erleben Sie persönlich Ihren religiösen Alltag? Spüren Sie da auch manchmal gesellschaftliche Widerstände?

Reul: Ich selber weniger. Wo kann es mir passieren? Ich gehe in die Kirche. Ich weiß, woran ich glaube. Und wenn ich in schwierigen Lagen bin, weiß ich erst recht, woran ich glaube. Das ist immer so, wenn man in komplizierte Lagen kommt. Meine Frau und ich, wir hatten Corona und das waren schon anstrengende Tage. Dann wird man schon mal wieder nachdenklich.

DOMRADIO.DE: Wo gibt Ihnen Ihr Glaube Halt und Mut?

Reul: Ich kann das gar nicht so festmachen, als ob ich sagen könnte da, da und da. Eigentlich immer wieder. Zumindest dann, wenn es eng wird. Wenn es schwierig wird, dann zumindest, weil man dann weiß, warum man es tut.

Das Interview führte Dagmar Peters.


Polizeiliche Markierungen vor der Synagoge in Bonn nach einem Anschlag / © Julia Steinbrecht (KNA)
Polizeiliche Markierungen vor der Synagoge in Bonn nach einem Anschlag / © Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
DR
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