KNA: Herr Wagner, die Pandemie ist noch nicht vorbei, im Wahlkampf dürfte die Pflege ein wichtiges Thema werden. Warum hören Sie zu diesem spannenden Zeitpunkt als Präsident des Deutschen Pflegerates auf?
Franz Wagner (Präsident des Deutschen Pflegerats): Weil ich Endes des Jahres in Rente gehe und außerdem den Eindruck habe, dass nach 22 Jahren hauptamtlicher Berufspolitik mal jemand anderer frischen Wind in die Sache bringen kann. Dazu kommt, dass die Corona-Pandemie auch mit mir persönlich was gemacht hat: Wir tun immer so, als gehe das Leben immer so weiter, als seien wir unsterblich. Die Pandemie hat mir aber klar gemacht, dass sich alles von einem auf den anderen Tag ändern kann. Deshalb will ich ab Herbst erstmal drei Monate in Andalusien und Sizilien Auszeit nehmen und zur Ruhe kommen. Und dann schaue ich, wo ich mich weiter ehrenamtlich engagieren kann - es gibt noch viele Themen in der Pflege, an denen mein Herz hängt.
KNA: Sie haben beschrieben, was Corona mit Ihnen persönlich gemacht hat. Was hat die Pandemie mit Ihrem Amt gemacht?
Wagner: Corona hat wahnsinnig viel Kraft für die politische Arbeit gebunden: Warum fehlen Masken, wo gibt es Schutzkleidung und wie schnell werden Pflegende geimpft. Bei wichtigen inhaltlichen Themen der Pflege sind wir deshalb nicht so weit gekommen wie erhofft: Etwa bei der Umsetzung der neuen Pflegeausbildung oder bei der Frage, wie der Pflegeberuf mehr Kompetenzen erhält und wie das Verhältnis von Pflege und Ärzten künftig aussehen kann.
KNA: Gerade zu Beginn der Pandemie wurde immer wieder betont, dass die Pflege systemrelevant sei. Bringt Corona einen Schub für Ihre Profession?
Wagner: In den vergangenen Monaten ist wie in einem Brennglas deutlich geworden, was in unserem Gesundheitssystem funktioniert und was nicht. Ich hoffe, dass die Bereitschaft zu tiefgreifenden Reformen gewachsen ist. Selbstverwaltung im Gesundheitswesen und Föderalismus sind zwar in normalen Zeiten ein Schutz, weil Verantwortung auf viele Schultern verteilt wird. Doch in der Krise hat sich das als zu kompliziert und als zu langsam erwiesen.
KNA: Schon vor Corona gab es einige Reformen. Gesundheitsminister Spahn verkündet selbstbewusst, er habe vieles zum Guten verändert. Sehen Sie das auch so?
Wagner: Spahn hat sicherlich mehr angestoßen als seine Vorgänger. Doch aus Sicht der Pflege ist vieles nur halbherzig und Stückwerk geblieben. Statt eine angemessene Personalbemessung einzuführen, werden Personaluntergrenzen in der Krankenhauspflege definiert - mit dem Risiko, dass die Arbeitgeber sich künftig eher an der Minimalausstattung orientieren. Der Minister hat zwar zusätzliche Stellen in der Altenpflege finanziert, aber es gibt kein Personal, weil die Arbeitsbedingungen so schwierig sind. Wir brauchen einen Masterplan Pflege, der alles miteinander verbindet, und keine Einzellösungen.
KNA: Was ist das zentrale Thema?
Wagner: Die Personalausstattung und die Arbeitsbedingungen sind der Schlüssel: Was nutzt die beste Werbekampagne für Pflegeberufe, wenn Pflegefachpersonen überfordert, krank und frustriert sind und so schnell wie möglich aus dem Beruf rauswollen?
KNA: Glaubt man der Bundesagentur für Arbeit, dann ist die Zahl der Beschäftigten in der Pflege zwischen Oktober 2019 und Oktober 2020 um 43.300 auf rund 1,77 Millionen gestiegen. Das zeigt ja eigentlich, dass die Pflege durchaus ein attraktives Arbeitsfeld ist...
Wagner: Wir wissen erstens nicht, wie sich das in Corona-Zeiten weiter entwickelt hat. Mehrere Umfragen zeigen, dass viele Pflegefachpersonen aus dem Beruf rauswollen, weil sie sich komplett überlastet und nicht ausreichend wertgeschätzt fühlen. Außerdem sind die Auswertungen der Bundesagentur im Bereich der Pflege nicht sehr differenziert. Der Zuwachs an Köpfen könnte durch eine niedrigere durchschnittliche Wochenarbeitszeit bei den Teilzeitarbeitenden sogar insgesamt ein Minus an Arbeitskraft bedeuten.
KNA: Auch die Gehälter in der Pflege sind laut Statistischem Bundesamt zuletzt deutlich gestiegen. Wie passt das zu den Klagen über geringe Entlohnung?
Wagner: Hohe Prozentwerte sind nur begrenzt aussagekräftig, wenn man von einem sehr niedrigen Niveau kommt. Darüber hinaus gibt es enorme Spreizungen: zwischen Alten- und Krankenpflege, Ost und West oder Trägern. Wir haben im Übrigen viel zu wenige Daten aus der Pflege. Deshalb wären ja die Landespflegekammern so wichtig.
KNA: Die scheitern aber vor allem - wie in Niedersachsen und Schleswig-Holstein geschehen - an den Pflegenden selber. Warum?
Wagner: Dass Pflegefachpersonen für eine Auflösung ihrer Kammer stimmen, hat mich schon sehr frustriert. Die Klagen über schlechte Arbeitsbedingungen und schlechte Bezahlung sind weit verbreitet, aber wenn es dann um einen finanziellen Pflichtbeitrag für so eine wichtige Interessenvertretung geht, ziehen viele nicht mit. Wir brauchen aber mehr Bereitschaft von Pflegefachpersonen, sich auch berufspolitisch zu engagieren. Und wir brauchen die Bereitschaft der Politik, solche Gremien auch durchzusetzen, damit die Pflege innerhalb des Gesundheitswesens gestärkt wird.
KNA: Immerhin ist die Pflege zu einem wichtigen politischen Thema geworden..
Wagner: Sie wird in der alternden Gesellschaft auch ein zentrales Thema bleiben. Die grundsätzlichen Fragen der Finanzierung, auch der Stärkung von ambulanter Pflege oder der Versorgung älterer Menschen in den eigenen vier Wänden sind nicht gelöst. Der Zusammenhang sozialer Faktoren und Gesundheit oder die Auswirkungen des Klimawandels auf Gesundheit müssen stärker in den Blick genommen werden. Zu befürchten ist, dass nach der Wahl die Kosten der Corona-Pandemie voll durchschlagen und in vielen öffentlichen Haushalten der Rotstift regiert. Das wird eine Nagelprobe für den Stellenwert der Pflege. Da muss der Berufsstand gut aufgestellt sein.