Kürzlich wurde Weihbischof Jean Kockerols in einer französischen Sendung interviewt. Er sprach über die Wiederaufnahme von größeren Gottesdiensten in seinem multikulturellen Vikariat Brüssel; und darüber, wie er dieses Pandemiejahr bewältigt habe. Er sei müde, sagte er. "Ich persönlich teile die Sorge und den Stress aller; ich bin müde wie alle anderen." Doch als Hirte, so Kockerols, habe er auch Gutes erlebt, das Mut für die Zukunft mache.
Jean Kockerols (62) ist einer von drei Weihbischöfen der belgischen Hauptstadterzdiözese Mecheln-Brüssel. Sein Zuständigkeitsbereich ist die multikulturelle Millionenstadt selbst. Zudem kommt dem Vizepräsidenten der EU-Bischofskommission COMECE derzeit noch eine weitere, größere Aufgabe zu. Der krebskranke Brüsseler Erzbischof, Kardinal Jozef De Kesel (74), Vorsitzender der Bischofskonferenz und belgischer Militärbischof, muss die Bistumsleitung seit April 2020 ruhen lassen; sie liegt für die Dauer seiner Krankheit bei den drei Weihbischöfen.
Einschnitt durch Missbrauchsskandale
Das Vikariat Brüssel ist so weltoffen wie die EU-Hauptstadt selbst, in der mehr als 170 Nationalitäten leben. Jeden Sonntag werden Gottesdienste in 23 Sprachen gefeiert. Doch hier wie in vielen Teilen der einstigen katholischen Hochburg Belgien hat die Kirche zu kämpfen. In der jüngeren Kirchengeschichte hatte das kleine Land große Bedeutung als Stätte der wissenschaftlichen Theologie (Universität Löwen) und in der Mission.
Beim Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) gehörten Belgier zu den Zugpferden der Reformer: Kardinal Leo Suenens (1904-1996), Primas und Erzbischof von Mecheln, und der Dominikaner und Querdenker Edward Schillebeeckx (1914-2009). Belgiens großes kirchliches Gewicht verkörperte später vor allem Suenens' liberaler Nachfolger Kardinal Godfried Danneels (1933-2019). Über 30 Jahre vermochte er zwischen den rivalisierenden Flamen und Wallonen zu vermitteln. Damit blieb die Kirche ein wichtiger Faktor für den Zusammenhalt der belgischen Gesellschaft.
Diese Zeit endete mit dem Einbruch der Missbrauchsskandale, mit denen Ansehen und soziale Relevanz der Kirche rapide sanken. Die in der älteren Generation noch stark verankerte Volksfrömmigkeit, die sich etwa an den Marienorten Beauraing und Banneux manifestiert, schmilzt.
De Kesel schien die ideale Besetzung
Der konservative Kurs des nachfolgenden Brüsseler Erzbischofs Andre-Joseph Leonard (2010-2015) verlief eher glücklos. Es braucht neues Vertrauen in die gesellschaftliche Gestaltungskraft - und neues Charisma.
Jozef De Kesel schien da die ideale Besetzung. Der polyglotte Flame steht für einen vermittelnden kirchenpolitischen Kurs und tritt intellektuell, besonnen und gemäßigt auf. Doch die Krankheit machte dem vormaligen Bischof von Brügge bislang einen Strich durch die Rechnung. In einem Interview sagte der Kardinal zuletzt, nach drei Operationen und einer laufenden Chemotherapie fühle er sich dauerhaft schwach. Sowohl seine Krankheit als auch sein Nachdenken über die Pandemie ließen ihn denken, sowohl er selbst als auch die Gesellschaft als Ganze müsse manchmal Umwege einschlagen, um zum Ziel zu gelangen.
Ende Mai legte De Kesel ein neues Buch über "Glaube und Religion in einer modernen Gesellschaft" vor. Der Kirche heute müsse es darum gehen, ihre Frohe Botschaft zu verkünden und anzubieten, so der Kardinal. Das sei etwas ganz anderes als die Christianisierung vergangener Zeiten. Eine Gesellschaft "wieder christlich zu machen", sei heute weder möglich noch wünschenswert. "In einer säkularisierten Gesellschaft hat keine Religion ein Monopol, und es gibt nur eine Lösung, nämlich Toleranz", sagte De Kesel im Interview.
Einen Christen könne man heute in einer nichtchristlichen Welt nicht immer erkennen, so der Brüsseler Erzbischof weiter. Es gebe unterschiedliche Grade von Zugehörigkeit und Interesse an Kirche.
Jene, die in Kontakt mit der Kirche stünden, sollten "gut empfangen, respektiert und gehört werden, ohne Vorurteile". Es gelte als Christ "zu bezeugen, sich zu begegnen, zu sein, was ich bin".
Segnungsverbot aus dem Vatikan
Solche Gedanken lassen nachvollziehen, warum im Frühjahr das vatikanische Verbot der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare für große Empörung unter den belgischen Bischöfen sorgte. Besonders Johan Bonny aus Antwerpen machte seinem Zorn Luft - und bekam dafür Rückendeckung von der Bischofskonferenz. Nach den Skandalen der vergangenen Jahre sei "entscheidend, das Vertrauen der Gläubigen wiederzugewinnen, und deshalb sagen wir belgischen Bischöfe 'genug ist genug!'", sagte Bonny. Er schäme sich für seine Kirche und sei wütend.
Es gelte anzuerkennen, "dass sich die Zeiten geändert haben", so der Antwerpener Bischof. "Wenn wir von 'Sünde' sprechen, wo es um irreguläre Verhältnisse mit Blick auf unser Eheverständnis geht, so ist davon tatsächlich die Mehrheit unserer Gläubigen betroffen." Es gehe nicht nur um Homosexuelle, sondern um alle, die anders zusammenlebten, also auch Geschiedene und so weiter. "Die Hälfte der Kirche in meiner Diözese lebt also demnach in Sünde", sagte Bonny - und berichtete, dass als Reaktion rund 2.000 Personen die Löschung ihres Taufeintrags in den Registern der flämischen Diözesen beantragt hätten.
Der Bischof beklagte, das Papier der vatikanischen Glaubenskongregation sei "theologisch schwach" und zeuge von einer "Unfähigkeit, zeitgenössische Entwicklungen in der biblischen, der Sakramenten- und der Moraltheologie" aufzunehmen. "Es ist, als ob es in der Zeit von Pius XII. geschrieben wurde", so Bonny. Es gehe nicht um eine Ausweitung der sakramentalen Ehe - aber "es gibt verschiedene Möglichkeiten, einander zu lieben, aufeinander aufzupassen und Verantwortung in Kirche und Gesellschaft zu übernehmen".