KNA: Die Hochwasserkatastrophe in Deutschland macht fassungslos. Bei so schweren Schäden und so vielen Toten fragen manche: Wer hat Schuld? Früher hätte man gesagt, dass Gott die Menschen damit strafen will, heute sucht man meteorologische oder ökologische Ursachen. Macht die Rede von Gott bei Katastrophen heute noch Sinn?
Gunda Werner (Professorin für Dogmatik an der Uni Graz): Das berührt die klassische Frage der Theodizee. Die Theodizee klagt Gott an, wie er das Leid zulassen kann und weshalb er es nicht verhindert. Letztlich fragt sie, wieso die Welt so ist, wie sie ist. Die Rede von Gott in Katastrophen ergibt Sinn für Menschen, denen Gott ein wichtiges Gegenüber in ihrem Leben ist. In der religiösen Tradition gibt es die Anklage Gottes, das Verzweifeln an Gott und den Wunsch, eine Antwort von Gott auf das Leid zu bekommen. In den Psalmen wird nach Gott gerufen, sie sprechen auch von der Erfahrung, dass Gott sich dann doch zuwendet. Für religiöse Menschen ist Gott jemand, dem Leid geklagt werden kann und dem es nicht egal ist.
Ihre Frage berührt aber auch die Frage, ob der Preis der Freiheit vielleicht zu hoch ist. Die Frage danach, ob nicht Gott eingreifen müsste. Die Theodizee-Frage geht Hand in Hand mit der Schuldfrage. Hier ist zu unterscheiden zwischen Schuld, die eine Entscheidung und ein Bewusstsein voraussetzt und Schuld, die eine kausale Verursachung hat oder in dieser steht. Im ersten Fall ist es eine bewusste Handlung, im zweiten Fall bedeutet es, getroffen zu werden oder eingebunden zu sein in eine Kette von Bedingungen und Konsequenzen, die aber eine verantwortete Übernahme bedeutet.
In einer Katastrophe wie dieser ist es ein zutiefst menschliches Bedürfnis, der Katastrophe ein Gesicht der Schuld zu geben. Zu wissen, wem das Leid entgegenzuschleudern wäre. Aber bei so einer Flut ist dies kaum möglich, das ist zu multifaktoriell. Es ist aber vielleicht auch gar nicht wünschenswert. Denn einen einzelnen Schuldigen zu finden, oder ein System, verleitet dazu, die Ursachen nicht mehr sorgsam anzuschauen, die eben sehr viele sind und miteinander wirken.
KNA: Bei der Frage nach den Verursachern bringen viele den Klimawandel ins Spiel. Angenommen, diese Hypothese stimmt: Sind dann die "Klimasünder" einzeln oder als Gesamtheit mitschuldig am Tod der Flutopfer? Und wenn ja, wer könnte eine solche Schuld vergeben?
Werner: Der menschengemachte Klimawandel, der extreme Wetterlagen begünstigt, ist ein übergenerationelles und globales Phänomen. "Fridays for Future" fordert, dass die Generationen, die jetzt gestalten und Verantwortung tragen, diese so ausfüllen, dass es eine gute Zukunft für den Planeten gibt und für alles, was darauf lebt. Ich spreche lieber von einem Verantwortungszusammenhang, der sich über Generationen und über die Welt zieht.
Insofern bedeutet eine solche Katastrophe einen "Ruf in die Verantwortung", so hat es der Grazer Moraltheologe Walter Schaupp gesagt. Das gefällt mir sehr gut. Denn die Verantwortung dafür, insbesondere die klimazerstörenden Verhaltensweisen zu verändern, besteht bei jeder einzelnen Person. Ich sehe aber noch eine weitere Tiefenschicht, nämlich die Solidarität, die sich nicht nur in konkreter Hilfe zeigt. Sie ist auch global und würde im Idealfall bedeuten, solidarisch mit allen Menschen zu sein, die auf der Welt mit solchen Katastrophen konfrontiert sind und von denen manche deshalb irgendwann ihre Heimat verlassen müssen.
Diese multifaktoriellen Ursachen können nicht mehr einzelnen Schuldigen zugeordnet werden, denen dann vergeben werden könnte. Denn Vergebung bedeutet ja ein Geschehen, das ein Gegenüber hat, das um Vergebung bittet oder diese annimmt. Es gibt aber auch historische Vergebungsbitten, die Kollektivschuldzusammenhänge benennen. Hier wäre es eine Anregung, ob es eine solche stellvertretende Vergebung gegenüber der jungen Generation geben könnte, die in eine Zukunft schauen, in der diese Erde schon so sehr von Zerstörung geprägt ist.
Dies ist aber nur dann wirklich eine wirksame Geste, wenn Taten folgen, also die Faktoren der Katastrophe, die der Klimawandel verursacht, eingedämmt werden. Aber auch hier gilt: die Aufarbeitung braucht die Verantwortungsübernahme. Man muss die vielen Puzzlesteine der Verursachung einzeln und in ihrem Gefüge anzuschauen, ohne zu schnell "die Schuldigen" zu benennen.
KNA: Nach der Flut gibt es verwirrende politische und behördliche Schuld-Zuweisungen. Kann es sein, dass die Schuld an verspäteten Evakuierungen in einer Entscheidungskette "verdunstet"? Der Wetterdienst sagt, wir haben gewarnt, aber die Bundesregierung hat nichts getan. Die sagt, wir sind nicht zuständig, also sind die Länder schuld; die Länder sagen, die Kreise sind schuld; die beschuldigen dann den Katastrophenschutz ... Gibt es so etwas wie unverschuldete Mitschuld in einer solchen Entscheidungskette?
Werner: Komplexe Entscheidungsstrukturen haben wiederum ihre Gründe und Ursachen, die zum Teil gut begründet sind. Wieder kommen menschliche, systemische, politische, technische und historische Ursachen zueinander. So schwierig das ist angesichts von so viel Leid, aber eine solche Katastrophe muss man menschenwürdig aufarbeiten und nicht politisch ausschlachten oder die Verantwortung wegschieben. Weil so viel zusammenkommt, können aber auch die vielen die Verantwortung der Aufarbeitung auf sich nehmen. Das wäre auch den Opfern gegenüber eine würdige Haltung: Verantwortung für den Bereich zu übernehmen, für den ich Verantwortung übernehmen oder in Zukunft etwas verändern kann.
KNA: Wenn es für die Katastrophe benennbare einzelne Schuldige nicht gibt, wie können wir dann liturgisch mit einer solchen Situation umgehen? Sind allgemeine Vergebungsbitten sinnvoll? Oder genügt es, in den Fürbitten für die Opfer zu beten?
Werner: Es bleiben viele Ursachen, die nicht direkt zu beeinflussen sind. Es bleiben Ursachen, die so komplex sind, dass sie schwer zu fassen sind. Es bleiben Ursachen, in denen wir alle in der Verantwortung stehen und die - so schwierig der Gedanke ist und ich traue mich kaum, es zu sagen - auch die betroffenen Menschen, nämlich mit ihren den Klimawandel mitverursachenden Lebensformen, nicht eindimensional lösen können. Sie können aber als Motivation verstanden werden, nach dem zu suchen, was zu verändern ist.
Die Liturgie mit ihrer rituellen Form und ihren Symbolen, etwa den Kerzen, schafft Momente, die zur Verarbeitung des Leids dazuzugehören. Sie sind ein gestalteter und geschützter Raum für Trauer, Klage und Wut. Fürbitten sind konkret ausgedrückte Nähe für die Menschen in Not. Eine Nähe, die hörbar, öffentlich ist und ein Netz spannt, das Halt geben kann. Es braucht aber auch hier die Verantwortung, aus der Fürbitte heraus zu überlegen, was ganz konkret am eigenen Leben verändert werden kann.