DOMRADIO.DE: Teile von Erftstadt waren und sind schwer betroffen. Kommen mittlerweile Leute zu Ihnen, um über all das Schlimme zu sprechen oder gehen eher Sie auf die Menschen zu?
Dr. Britta Schmitz (Leiterin der Caritas-Beratungsstelle zur Erziehungs- und Familienberatung für Eltern, Kinder und Jugendliche in Erftstadt): Jetzt ist die Phase, in der wohl langsam aber sicher die erste Schockphase zu Ende geht, das ganze Ausmaß deutlich wird, die Kraft langsam schwindet und das Adrenalin langsam nachlässt. Da kommen Menschen auf uns zu, weil sie merken, dass sie seelisch überhaupt nicht mit der Situation klarkommen. Aber wir gehen auch auf Menschen direkt zu, besonders in Blessem. Wir sind besonders aktiv auf die Menschen zugegangen, die im Radius von 100 Metern an der Abbruchkante ihre Wohnung oder ihre Häuser haben, in Kooperation mit der Stadt.
DOMRADIO.DE: Sie sprechen mit ganz vielen Menschen, jetzt auch mit Kindern und Jugendlichen. Was sagen und erzählen die?
Schmitz: Mit Kindern sprechen wir nicht. Das überlassen wir den Eltern, die Kinder brauchen sie. Die brauchen in dieser Phase nicht auch noch eine neue Person in ihrem Leben, sondern die brauchen jetzt ihre Eltern, die sie stabilisieren können. Und deswegen stärken wir die Eltern. Wir sprechen mit Kindern, die schon in unserer Beratung sind. Und wir sprechen auch mit Jugendlichen. Und da wird deutlich, dass sie das einfach überhaupt nicht fassen können. Dass das für sie im Grunde auch, genauso wie für die Erwachsenen, ein völliger Kontrollverlust ist. Es passiert etwas in relativ kurzer Zeit, was die Kinder gar nicht fassen können und was ihnen ganz viel nimmt, was ihr Zuhause, was ihre Privatsphäre völlig beeinträchtigt. Wir erleben aber auch Kinder und Jugendliche, die selbst gar nicht so sehr betroffen sind, wo vielleicht nur der Keller unter Wasser gestanden hat, die aber mitbekommen, was ihre Freunde, was ihre Verwandten alles erlebt haben. Die leiden auch sehr darunter. Und denen hilft das, wenn sie mit anpacken können und wenn sie auch darüber sprechen können
DOMRADIO.DE: Gibt es noch etwas, was den Menschen Erleichterung bringt?
Schmitz: Für jüngere Kinder ist auf jeden Fall wichtig, dass sie Struktur haben, dass sie einen guten Kontakt zu ihren Eltern haben. Und da machen wir uns Sorgen um die Kinder, weil die Eltern voll eingespannt sind, um ihre Häuser, ihre Wohnungen wieder herzurichten, Dinge zu organisieren. Die Kinder brauchen aber auch die Eltern als Ansprechpartner. Und die brauchen die Verbindung zu den Eltern. Es ist auch wichtig, mit den Kindern darüber zu sprechen, nichts zu beschönigen, zu sagen, was passiert ist, aber immer auch im Hinblick darauf, was man tun kann. Die Eltern konnten zum Beispiel die Kinder schützen. In Erftstadt ist es ja, Gott sei Dank, so, dass niemand in den Fluten gestorben ist. Eltern konnten ihre Kinder soweit schützen, dass sie einfach alle überlebt haben, sodass bestimmte Sachen vielleicht auch noch gerettet werden konnten. Und dass sie jetzt dabei sind, wieder aufzubauen.
Mit diesem Tenor über die Katastrophe zu sprechen und die Perspektive auf gute Bilder offen zu machen, klar zu machen, dass man etwas tun kann: Man ist in einer sozialen Gemeinschaft, die zusammenhält und die sich beim Wiederaufbau und beim Wiederherstellen von Normalität gegenseitig stützt. Es ist ganz wichtig, dass Kinder das mitbekommen, aber auch, dass sie sich nicht alleine fühlen dadurch, dass die Eltern jetzt nur noch unterwegs sind, andere Sachen machen und selber sehr belastet sind.
DOMRADIO.DE: Machen Sie sich dennoch Sorgen, dass Kinder traumatisiert aus der Katastrophe herauskommen?
Schmitz: Das kann passieren. Das kann man jetzt noch gar nicht abschätzen. Jetzt hält erstmal eine Phase an, die völlig normal ist, zwischen sechs und acht Wochen, wo Kinder und Erwachsene auch erst mal unter Schock stehen und sehr belastet sind. Das ist normal. Aber wenn sich dann die Symptomatiken nicht legen, kann das eine posttraumatische Belastungsstörung sein und da muss man eben gucken. Insofern sind wir froh, wenn Familien frühzeitig zur Beratung kommen und nicht nur für die materielle Seite, sondern auch für die seelische Seite frühzeitig Unterstützung suchen.
DOMRADIO.DE: Was erwarten Sie von der Politik? Was soll, was muss die tun, damit Kinder nicht nachhaltig psychische Schäden davontragen?
Schmitz: Ich denke, Kinder und Jugendliche, die jetzt auch noch von der Flutktastroph betroffen sind, sind jetzt in dieser Zeit doppelt gestraft. Es gab schon Corona, wo viel Struktur, wo viel Orientierung weggefallen ist. Jetzt auch noch durch die Flutkatastrophe. Die Kinder brauchen Systeme wie Schule, die Kinder brauchen Hobbies, die Kinder brauchen aber auch die Familien. Und ich glaube, wir brauchen vermehrt auch beratende und therapeutische Angebote. Die gibt es ja auch viel zu wenig. Wenn man heute jemanden für eine therapeutische Behandlung für Kinder und Jugendliche sucht, hat man ewige Wartezeiten. Auch da muss es einfach bessere Angebote geben. Aber auch im Alltagsbereich: Vereine, Schule, Jugendzentren. Das ist das, was die Kinder in dieser Zeit brauchen.
Das Interview führte Hilde Regeniter.