DOMRADIO.DE: "2015 darf sich nicht wiederholen." Was haben Sie gedacht, als Sie den Satz von Kanzlerkandidat Armin Laschet gehört haben?
Dr. Jörg Lüer (Geschäfstführer von Justitia et Pax): Ich habe mich - ich sage mal so - eine Mischung aus gewundert und geärgert. Und ich dachte, ach typisch, man macht sich vor allen Dingen erst mal wieder Sorgen um sich selbst. Wo doch in Wahrheit die Not der anderen so zum Greifen nahe ist.
Es ist verständlich, dass jetzt in dieser Situation das Jahr 2015, was wir vielleicht noch nicht verarbeitet haben, wieder hochkommt. Aber wir sollten uns jetzt nicht so von unseren eigenen Sorgen und Ängsten zu sehr leiten lassen, sondern den Blick genau auf das richten, was in Afghanistan aktuell zu tun ist.
DOMRADIO.DE: Und darauf sollen ja alle Regierungen mit Menschlichkeit reagieren, so bitten Sie ja. Wie sollte denn so eine Reaktion konkret aussehen?
Lüer: Also es fängt zum jetzigen Zeitpunkt natürlich damit an, das zu tun, was man tun kann, um Leute rauszubringen und auch schnelle und unbürokratische Lösungen zu finden. Das heißt jetzt nicht, dass alle sofort in die Bundesrepublik müssen. Aber die Frage, wer wann am Ende wo bleibt, das ist jetzt nicht das, was wir heute klären müssen.
Sondern wir müssen mit den europäischen Partnern zügig das Gespräch suchen und vor allen Dingen auch mit den Nachbarn Afghanistans. Und auch diese natürlich ganz entschieden stärken und uns jetzt nicht zu sehr um uns selber an dieser Stelle bekümmern.
DOMRADIO.DE: Sie haben gemeinsam mit katholischen Bischöfen und auch mit Vertretern der evangelischen Kirche eine Erklärung veröffentlicht, in der Sie jetzt vor Schuldzuweisungen warnen. Was ist damit gemeint?
Lüer: Wir sind sehr dafür - auch schon übrigens seit geraumer Zeit - dass wir uns intensiv mit den Erfahrungen des Afghanistaneinsatzes auseinandersetzen. Aber zum jetzigen Zeitpunkt ist es nicht die Frage des Tages.
Jetzt ist nicht die Frage: Wer hat wann was wie falsch gemacht? Sondern jetzt muss das Augenmerk erst einmal auf das gerichtet werden, was zu tun ist. Eben die Not der Menschen in Afghanistan, soweit das überhaupt in unseren Möglichkeiten steht, zu lindern.
Aber wir müssen uns danach natürlich intensiv mit diesem konkreten Fall auseinandersetzen. Was bedeutet das für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, für europäische Außen- und Sicherheitspolitik? Was bedeutet das auch für das transatlantische Verhältnis? Aber ein jedes Ding zu seiner Zeit.
DOMRADIO.DE: Jetzt gibt es auch von der deutschen Regierung schon viele Reaktionen. Tut die denn aktuell das Richtige für die Menschen in Afghanistan?
Lüer: Ich würde jetzt mal konstatieren, dass die Regierung natürlich auch in so einer Suchbewegung ist wie wir alle. Also es ist ja ganz offensichtlich, dass der Informationsvorsprung der Regierung jetzt nicht so übertrieben groß ist. Und das diskutieren wir jetzt ja auch zum jetzigen Zeitpunkt.
Ich hoffe, dass die Regierung der Versuchung widersteht, jetzt vor allen Dingen aus Angst vor den Wahlen hier engherzig zu denken, aus Angst vor den Wahlen, vor möglichen Konflikten womöglich mit europäischen Partnern. Ich halte das zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht für ausgemacht, wie das ausgeht.
Von daher wollen wir - und das ist auch ein Grund dieser Erklärung - gemeinsam mit den evangelischen Geschwistern, aber auch drei katholischen Bischöfen, gemeinsam die Regierung ermutigen, hier mal das Herz weit zu machen und ein bisschen "out of the box" zu denken.
DOMRADIO.DE: Was könnte denn die Regierung tun?
Lüer: Also erster Punkt, wie ich schon sagte, die Nachbarn in Usbekistan - ein konkretes Beispiel - ganz massiv zu unterstützen, dass Sachen aufgefangen werden. Selbstverständlich Leute, nicht nur Ortskräfte, die für die deutschen Streitkräfte gearbeitet haben, zügig hierher aufzunehmen. Ganz klar auch mit allen zu sprechen, die bei diesem Einsatz dabei gewesen sind, da auch so ein Lead zu übernehmen.
Und es ist zu verhindern, dass die europäischen Partner, aber es gibt auch noch ein paar andere internationale, sich jetzt einen schlanken Fuß machen und keiner zuständig sein will in der Frage. Ich glaube, da ist politische Führung gefragt und das muss jetzt gezeigt werden.
Das Interview führte Florian Helbig.