Thierse fordert Respekt für Scholz' Verzicht auf Gottesbezug

Kein Eid mit "so wahr mir Gott helfe"

Olaf Scholz wurde zum neuen Bundeskanzler gewählt und ist damit der erste konfessionslose Regierungschef der Bundesrepublik. Der engagierte Katholik Wolfgang Thierse erwartet, dass Scholz trotzdem christliche Werte vertreten wird.

Olaf Scholz (SPD) am 07.12.2021 im Bundestag / © Kay Nietfeld (dpa)
Olaf Scholz (SPD) am 07.12.2021 im Bundestag / © Kay Nietfeld ( dpa )

DOMRADIO.DE: Die erste SPD-geführte Regierung seit... für Sie einer gefühlten Ewigkeit?

Wolfgang Thierse (SPD-Politiker und Bundestagspräsident a.D.): Ja, 16 Jahre hat die Ära Merkel gedauert. Das ist schon lange her, das wir mit Gerhard Schröder einen sozialdemokratischen Bundeskanzler hatten.

DOMRADIO.DE: In den vergangenen Jahren gab es schon fast so was wie Grabreden auf die Sozialdemokratie. Fühlt man da jetzt ein bisschen Genugtuung?

Thierse: Ja, gewiss. Ich fand diese Grabreden und Totengesänge auf die SPD immer etwas verfrüht. Auch insgesamt auf die Volksparteien. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine lebendige, zukunftsfähige Demokratie auch künftig Volksparteien braucht. Also den Abgesang auf die großen Parteien sollte man nicht so schnell singen.

DOMRADIO.DE: Was muss und soll die neue Regierung ihrer Meinung nach angehen, was unter Angela Merkel vielleicht gefehlt hat?

Thierse: Ich will keinen kritischen Rückblick leisten. Es ist klar, dass wir ziemlich riesige Aufgaben in diesem Lande zu bewältigen haben. Das Wichtigste ist die ökologische Herausforderung, die Klimakatastrophe und die Verarmung der Natur. Das ist eine der ganz großen, vielleicht die größte Herausforderung.

Dazu kommt natürlich die Modernisierung und digitale Transformation. Dafür sind große Investitionen in Wissenschaft und Technologie nötig, um Deutschland, seine Wirtschaft und Gesellschaft wettbewerbsfähig in einer offenen Welt mit globalen Konkurrenzen zu halten. Und natürlich geht es auch darum, den Sozialstaat zukunftsfähig zu machen angesichts der Herausforderung des demografischen Wandels, also der älterwerdenden Gesellschaft.

Eine weitere große Herausforderung ist Europa und eine gemeinsame Friedens- und Sicherheitspolitik unter den veränderten Bedingungen einer nicht friedlicher geworden Welt. Erst vor 30 Jahren kam es zur Überwindung des Ost-West-Konflikts und einer deutschen und europäischen Vereinigung.

DOMRADIO.DE: Sie selbst sind engagierter Katholik, waren Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Olaf Scholz hingegen ist aus der evangelischen Kirche ausgetreten, also konfessionslos. Erwarten Sie von Scholz trotzdem eine christliche Politik?

Thierse: Na sicher. Christliche Politik ist ein schwieriges Wort. Es würde bedeuten, politische Entscheidungen nach Maßstäben zu fällen, die nicht nur dem politischen Pragmatismus, sondern von Grundüberzeugungen der menschlichen Würde geprägt sind. So gesehen gibt es Politik aus humanistisch, christlichen Überzeugungen.

Die sehe ich auch bei Olaf Scholz. Er hat in einem Interview darauf hingewiesen, dass er natürlich durch die christliche Prägung des Landes geprägt worden ist, und dass ihm dies wichtig ist.

Im Übrigen gilt für Olaf Scholz, was auch schon für Angela Merkel gegolten hat: Ein Bundeskanzler macht die Politik nicht allein. Das was für eine Gesellschaft wichtig ist, wird in dieser Gesellschaft miteinander debattiert und entschieden.

DOMRADIO.DE: Olaf Scholz hat angekündigt, er würde seinen Amtseid ohne den Zusatz, “So wahr mir Gott helfe”, leisten. Spielt das für Sie eine Rolle?

Thierse: Ja, aber ich nehme an, das andere Minister bei Ihrer Vereidigung den Zusatz “So wahr mir Gott helfe” sprechen werden. Auf eines sind aber alle verpflichtet: Auf das Grundgesetz. Dort heißt es in der Präambel: “Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, [...] hat sich das deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.”

In der Verfassung steckt also schon die Anrufung Gottes. Eine Anrufung, die deutlich macht, dass nicht alles politisch willkürlichem Pragmatismus unterworfen werden kann, dass wir uns an Maßstäben zu orientieren haben, die nicht selbst politischer Zweckmäßigkeit unterworfen sind.

Nichts anderes steckt, wenn man ihn politisch interpretiert, in diesem Zusatz “So wahr mir Gott helfe”. Die Aussage: ‘Ich selbst kann nicht alles leisten. Ich bin nicht Gott, sondern ich bin nur ein Mensch.’ Das gilt auch für den Bundeskanzler Olaf Scholz.

DOMRADIO.DE: Warum wird die Frage dann immer so groß und emotional diskutiert?

Thierse: Na ja, das muss man ja nicht. Es ist eine persönliche Überzeugung, eine Lebens- und Glaubenseinstellung. Das kann man auch einfach mit Respekt zur Kenntnis nehmen, dass es da Unterschiede gibt. Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, die auch religiös und weltanschaulich vielfältig ist. Daher haben wir damit so tolerant und friedfertig umzugehen wie nur irgend möglich.

DOMRADIO.DE: Sie kennen Olaf Scholz persönlich. Was halten denn Sie den von Ihrem Parteigenossen und neuen Bundeskanzler?

Thierse: Ich kenne ihn schon sehr lange, seit er im Bundestag sitzt. In der Zeit habe ich ihn in verschiedenen Funktionen erlebt. Er ist außerordentlich fleißig. Er ist sehr intelligent und sehr verlässlich ist er auch. Er macht nicht so viel Theater. Er wirkt daher auch durchaus nüchtern. Manche mögen das vielleicht nicht, aber ich habe an ihm genau das immer geschätzt. Wenn man mit ihm etwas verabredet hat, gilt es. Ich denke, das bleibt auch so, wenn es um große politische Dinge geht.

DOMRADIO.DE: Gibt es etwas, was Sie Olaf Scholz für seine künftige Kanzlerschaft gerne mit auf den Weg geben würden?

Thierse: Ich wünsche ihm, dass er nicht nur Krisen zu bewältigen hat, wie jetzt zum Start seiner Kanzlerschaft mit der Corona-Pandemie, sondern dass es auch Phasen gibt, in denen man die ruhige Politik der langen Linien machen kann.

Krisen sind immer Phasen, in denen hektisch etwas getan werden muss, entschieden werden muss, damit ein Problem gelöst, eine Gefahr abgewendet wird. Daher wünsche ich ihm die Phasen, die von den man die Politik der langen Linien machen kann und nicht nur von Krise zu Krise hoppeln muss.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.


Wolfgang Thierse / © Christoph Soeder (dpa)
Wolfgang Thierse / © Christoph Soeder ( dpa )
Quelle:
DR