DOMRADIO.DE: Schwester Reginata, in den 36 Jahren Ihres Dienstes in der Krankenhausseelsorge des Bensberger Vinzenz Pallotti Hospitals haben Sie nicht nur im dortigen Hospiz viele traurige Abschiede begleitet. Auch im Kreißsaal, in dem jährlich über 2000 Kinder zur Welt kommen, ist nicht jede Geburt ein freudiges Ereignis. Es gibt Kinder, die weit vor ihrer Zeit geboren werden und keine Chance auf Leben haben, oder Babys, die tot geboren werden – manchmal erwartet, aber viele auch ohne Vorwarnung. Eltern erleben das in der Regel als Trauma. Was können Sie in solchen Momenten tun?
Schwester Reginata Nühlen (Pallottinerin und ehemalige Krankenhausseelsorgerin): Da sein, den unermesslichen Schmerz, der mir beim Betreten des Kreißsaals entgegenschlägt, aushalten und mittragen, unter Umständen zunächst schweigen und dann nach Worten des Trostes suchen, um mit dieser Situation umzugehen. Wir hatten in Bensberg immer das Angebot, dass Eltern ihr tot geborenes Kind segnen lassen können. Wenn das gewünscht war, haben die Hebammen, die meist selbst sehr betroffen waren, nach mir rufen lassen. Wichtig ist dann für trauernde Eltern, in ihrem Leid gesehen zu werden und dass jemand ihnen die Last abnimmt, diese unsagbar traurige Situation irgendwie bewältigen oder gestalten zu müssen. Dass ich hierzu etwas Heilsames beitragen könnte, habe ich immer als ein Zeichen großen Vorschussvertrauens wahrgenommen, auch wenn ich selbst jedes Mal von der Begegnung mit trauernden Eltern sehr berührt war und meine eigenen Emotionen kaum kontrollieren konnte.
Eine Familie mit drei Geschwisterkindern ist mir da ganz besonders in Erinnerung geblieben. Als ich in den Kreißsaal kam, stockte mir der Atem, weil das mittlere der drei Kinder, ein Mädchen, sein totes Brüderchen in seinen Armen auf dem Schoß hielt. Als erstes habe ich mich hingekniet, um auf Augenhöhe mit ihnen zu sein, und nach dem Namen des Neugeborenen gefragt. Der Älteste bekam eine Osterkerze von mir, um sie zu halten, der Jüngste den Weihwasserkrug. Und dann habe ich sie damit versucht zu trösten, dass das Herz von Paul – so hieß das Baby – nicht stark genug gewesen war, wir ihn aber nun segnen könnten. "Und wenn Ihr mal nicht weiterwisst", habe ich ihnen gesagt, "dann denkt an Euren Bruder! Er wird von nun an vom Himmel aus für Euch sorgen." Das kam mir einfach so spontan über die Lippen. Später habe ich sie aufgefordert, ihm ein Kreuzchen auf die Stirn zu zeichnen. Das hat ihnen gefallen.
Alle waren trotz ihrer Traurigkeit so dankbar, für Paul etwas tun zu können und dass ich ein Segensgebet gesprochen habe, in das ich all das mit hineinnehmen konnte, was an Gefühlen gerade in diesem Raum war. Man spürte förmlich, wie hilfreich es war, dass jemand von außen gekommen war, die Situation in die Hand nahm, aber vor allem auch Anteil zeigte. Für solche Ausnahmesituationen gibt es kein Schema, keine Routine. Eine Kerze und Weihwasser – mehr hatte ich ja nicht. Aber für diese Menschen war es in diesem Moment genau das Richtige und befriedete für kurze Zeit ihren Schmerz. Dankbar haben sie angenommen, dass sie mit ihrer Trauer nicht allein bleiben mussten und jemand Worte dafür gefunden hat.
DOMRADIO.DE: Dieser so wichtige Dienst verlangt viel Empathie. Sie sagen, jede Situation ist wieder neu…
Schwester Reginata: Auch die trauernden Eltern sind ja immer wieder andere. Was sie eint, ist der Verlust und das Empfinden, dass die Welt für sie gerade stehn bleibt. Und jeder braucht dann etwas anderes. Da bedarf es feiner Sensoren. Leere Formeln helfen da nicht weiter. Wenn ihr Baby unmittelbar nach der Geburt verstirbt oder tot zur Welt gekommen ist, brauchen Eltern erst einmal Zeit, das Unvorstellbare zu begreifen. Und das meine ich durchaus auch wörtlich. Aber sie fürchten sich unter Umständen auch, ihr totes Kind anzufassen, es in den Arm zu nehmen. Möglicherweise haben sie Angst davor, wie ihr Kind aussehen wird, ob es vielleicht entstellt ist.
Ich erinnere mich an eine Mutter, die ihr Kind auf keinen Fall anschauen wollte, das als völlige Überforderung von sich gewiesen hat. Da habe ich das kleine Körbchen genommen, mich dem toten Kind zugewendet und mit ihm gesprochen. "Hast Du Angst vor dem Leben gehabt, obwohl Du doch so sehnlichst erwartet wurdest?" Und je länger ich mich mit dem Kind beschäftigte, desto mehr konnte sich die Mutter der Situation stellen und ihre Abwehr überwinden, bis sie schließlich doch allmählich bereit war, sich ihrem winzigen Baby zu nähern und es anzusehen. Das sind dann Momente, in denen ich mich einfach führen lasse und bete: "Herr, gib mir die richtigen Worte ein! Denn mir fehlen sie…" Neben allem Kummer war das dann doch noch so etwas wie ein kleines Glück, weil die Mutter die Schönheit ihres Kindes sehen konnte, auch wenn sie bei dessen Anblick von großem Schmerz überwältigt wurde.
DOMRADIO.DE: Statt des freudig erwarteten Lebens nur Tränen und Verzweiflung. Gibt es Rituale, die in einer solchen Situation den trauernden Eltern Trost und Halt geben?
Schwester Reginata: Oft herrscht zunächst einmal Sprachlosigkeit. Eine "heilige Stille" nenne ich das, in der ich dann genau diese spürbare Hilflosigkeit aller Anwesenden zum Gebet mache. "Wo ist Gott, wie kann er jetzt helfen?", frage ich dann. Oder ich erkläre, dass meine mitgebrachte Kerze, die ich anzünde, symbolisch für die Auferstehung, für ein neues Leben, steht. Manchmal komme ich auch darauf zu sprechen, wie der Alltag für die Familie nun ohne Linus, Leon oder Pia – jedes Kind hat ja oft bereits einen Namen – weitergehen kann, was die Eltern wohl bedrückt, was sie sich für ihr Sternenkind wünschen oder erhoffen. Mit dem, was ich sage, würdige ich das kurze Dasein dieses Kindes und versuche mit jedem Wort, den Eltern Beistand, Trost und Kraft zu geben. Das alles sind Abschiedsrituale, die sich als intensive Erfahrung in der Erinnerung der Trauernden verankern und später im Rückblick auch ein Stück weit zur Heilung ihres Kummers beitragen können.
Außerdem ermutige ich dazu, auch nach dem Verlassen der Klinik immer wieder diesem Schmerz einen Ausdruck zu geben, für das verstorbene Kind eine Kerze anzuzünden, mit der Familie und Freunden darüber zu sprechen, dieses brennende Gefühl von Traurigkeit nach außen zu tragen und sich nicht zu verkapseln.
DOMRADIO.DE: Als Ordensfrau müssten Sie gewissermaßen qua Berufung und Amt eine Antwort auf ein solches Leid haben. Aber bringt das nicht auch Sie an Ihre Grenzen, wenn Sie ein verstorbenes Kind in den Armen halten und ein Gebet sprechen sollen? Zweifeln Sie da nicht mitunter an der Gerechtigkeit Gottes?
Schwester Reginata: Sagen wir: Ich habe keine Antwort auf das „Warum“. Ich suche danach und halte Gott immer meine Fragen hin. Dann gehe ich in die Kapelle, überlasse mich ihm ganz und bete: "Gib den Menschen, die so um ihr Kind trauern, Hoffnung! Nur du allein weißt, wofür es gut ist, was ihnen geschieht." Wie oft lässt mich die Tatsache, dass sich ein so kleines Menschenkind nicht entfalten konnte, fragend, aber auch staunend über das Wunder Leben und einen allzu frühen Tod zurück. Erst recht wenn man bedenkt, dass andere 100 Jahre alt werden. Aber deswegen an Gott zweifeln? Nein.
Ich habe schon Kinder in meinen Händen gehalten, die waren nicht größer als mein kleiner Finger. Einmal habe ich ein solches Kind gemeinsam mit seinem Vater betrachtet, und er war voller Bewunderung dafür, dass alles an ihm dran war und nichts fehlte. Ein Wunder, hat er immer wieder nur gesagt und dabei sogar gelächelt. Ich bin davon überzeugt, Gott ist an der Seite jedes Menschen und ganz besonders an der Seite jedes Kindes, auch wenn das Licht seines Lebens früh erlischt und sich sein Leben viel zu früh vollendet. Trotzdem – davon bin ich absolut überzeugt – geht dieses kleine Leben vor Gott nicht verloren. Es ist eingeschrieben in seine Hand, wie es im Buch Jesaja heißt, und damit an einem sicheren Ort. Ich glaube fest daran, dass seine kleine Seele weiterlebt.
Oder ich denke an eine Frau, die die fünfte Fehlgeburt erlitten hat. Darauf findet man keine Antwort. Jede Schwangerschaft ist von neuen Ängsten begleitet. Und dann erweist sich diese Sorge als begründet und brutal real: Der Traum eines Kindes erfüllt sich auch zum wiederholten Male nicht. Das bedeutet für einen einzigen Menschen schon ein großes Leid, das er da tragen muss.
DOMRADIO.DE: Was hilft einem Paar oder einer ganzen Familie – es gibt oft ja auch trauernde Geschwister, wie Sie berichten – in der ersten Akutsituation?
Schwester Reginata: Nicht allein gelassen zu werden. Immer sind ja auch Hebammen mit dabei, die aber meist auch in Trauer aufgelöst sind, wenn sie in ihrem Dienst den Tod eines Säuglings erleben, und mein Kommen dann als Entlastung verbuchen. Das ist sehr berührend: Aus Ehrfurcht knien sie sich meist hin und wir beten mit der Familie gemeinsam. Manchmal sind neben den Eltern auch noch die Großeltern mit dabei und wir bilden eine richtige kleine Trauergemeinde. Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass sich in solchen Momenten der bedrückenden Stille, der Totenstille, wenn man so will, die für mich aber wie gesagt eher eine heilige Stille ist, alles auf mich richtet und ich dann zum Sprachrohr für eine Trostbotschaft des Himmels werde.
Einmal hatten wir ein junges türkisches Mädchen da, das ihr Kind verlor. Es wollte unbedingt, dass jemand kam und diese Situation religiös begleitete. Dabei hat sie mir von ihrer Not angesichts dieser frühen Schwangerschaft erzählt, dass sie keine aktive Abtreibung gewollt habe, Gott auf ihre Frage "Nein" gesagt, sie nun mit dieser Fehlgeburt aber eine Antwort bekommen habe. Auch ihr habe ich eine Osterkerze mitgebracht, obwohl sie keine Christin war. Diese Kerze bedeute ihr viel, sie wolle sie mit nach Hause nehmen, hat sie sich bedankt. Die meisten Eltern fühlen sich ihrem toten Kind noch lange Zeit verbunden. Manche begleitet diese Erfahrung ihr Leben lang. Den Abschied bewusst zu gestalten, kann helfen, den Verlust anschaulich zu machen und neuen Mut zu fassen.
Ein anderes Mal hat eine Mutter auf dem Weg zu uns ihr Kind in einem sehr frühen Stadium verloren. Als sie bei uns ankam, gab es nichts mehr, was ich hätte segnen können. Das war für mich eine große Herausforderung, einen Segen zu sprechen und dabei keinerlei Anschauung, keinen Adressaten, zu haben. Manchmal geht es für Mütter dann um Selbstvorwürfe, nicht genug auf ihren Körper geachtet, den Abgang des Kindes womöglich leichtsinnig ausgelöst zu haben. Sie fühlen sich schuldig, die Fehlgeburt verursacht zu haben. Hier tröste ich sie dann damit, dass ich sage: Ihr Kind war so stark, dass es nun Verantwortung übernommen hat und selbst entschieden hat, ob es leben oder sterben will. Solche Gedanken kommen manchmal aus der Situation heraus – je nach dem, was mir die Eltern anbieten.
DOMRADIO.DE: Machen Sie die Erfahrung, dass es hilft, wenn jemand glaubt?
Schwester Reginata: Eine Begegnung im Gebet hilft eigentlich immer. Ob frei gesprochen oder aus der Bibel. Der Psalm 23 zum Beispiel – "Der Herr ist meine Hirt, nichts wird mir mangeln…" – oder auch ein Vaterunser können in einer emotional sehr aufgewühlten Situation beruhigen. Wer im Glauben gefestigt ist, setzt auf die Hilfe Gottes und weiß sein Kind bei Gott behütet. Ich empfinde mich dann nur als ein Sprachrohr. Manchmal frage ich mich, wie Menschen diesen Schmerz überhaupt aushalten und woher sie diese Kraft beziehen. Denn bei aller Traurigkeit, Wut und Verzweiflung erlebe ich mitunter auch Menschen, die Mut entwickeln, sich neu finden, neue Schritte wagen und verwandelt wieder Lebenskraft schöpfen. Nur selten im Leben lassen sich Menschen so tief berühren und zeigen sich so verletzlich wie beim Verlust ihres Kindes. Manchmal bleiben wir über dieses gemeinsame Erlebnis noch über viele Jahre miteinander verbunden. Dann schicken sie mir eines Tages Bilder von Geschwisterkindern, um dieses unerwartete Glück nach einem Schicksalsschlag mit mir zu teilen.
DOMRADIO.DE: Ihr Dienst als Seelsorgerin bestand in den zurückliegenden Jahrzehnten weitgehend aus Abschieden. Der Übergang vom Leben zum Sterben ist zu Ihrem Lebensthema geworden. Wie hält man das aus?
Schwester Reginata: Diese Schwere lässt sich nur im täglichen Gebet ertragen und im Lesen und Hören des Wortes Gottes. Gleichzeitig hat dieses Thema "Stille Geburt" oder "Leere Wiege" in mir immer wieder eine große Dankbarkeit ausgelöst, am Werden des Lebens, auch wenn es dann nicht lebensfähig war, Anteil zu bekommen. Dankbar bin ich auch für das eigene Leben. Und wem habe ich es zu verdanken? Gott! Diese tiefe Überzeugung hilft.
In der Ausbildung zur Krankenhausseelsorge – jedenfalls damals vor 40 Jahren – wurde man auf vieles vorbereitet, nicht aber auf eine solche Kreißsaal-Situation. Dazu gab es damals keine Anleitung. Ich habe dann gelernt, mich jedes Mal neu auf die individuelle Situation von trauernden Elternpaaren einzulassen. Und trotzdem: An diese abgrundtiefe Trauer gewöhnt man sich nie.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.