Bischof Neymeyr wirbt für konstruktiven Blick auf Ostdeutschland

"Einander nicht nur aus Schlagzeilen wahrnehmen"

Bei Reizthemen wie den Corona-Protesten sind es wieder Bilder aus Ostdeutschland, die in der Berichterstattung dominieren. Eine konstruktive Auseinandersetzung nimmt Ulrich Neymeyr, Westdeutscher und seit 2014 Bischof von Erfurt, nur selten wahr.

Bischof Ulrich Neymeyr / © Dominik Wolf (KNA)
Bischof Ulrich Neymeyr / © Dominik Wolf ( KNA )

KNA: Herr Bischof, Sie haben beim Jahresempfang des Bistums Erfurt für Thüringer Politiker unlängst um mehr Verständnis für das in Ostdeutschland verbreitete Lebensgefühl geworben, nicht gehört zu werden und seine Meinung nicht sagen zu dürfen. Warum ist Ihnen das wichtig?

Ulrich Neymeyr (Bischof von Erfurt): Wir erleben derzeit eine Polarisierung der Gesellschaft. Sie entzündet sich jetzt an Corona-Schutzmaßnahmen, während es 2015 die Aufnahme von geflüchteten Menschen war. Ich bin mir sicher: In Zukunft wird sie sich an unserem Umgang mit der Klimakrise entzünden.

Für mich stellt sich die Frage, was wir angesichts dessen zu einem besseren Miteinander beitragen können. Und da ist es für mich wichtig, die Menschen zu verstehen.

KNA: Was bedeutet das konkret?

Neymeyr: Es ist offensichtlich so, dass es besonders in Thüringen und Sachsen andere politische Einstellungen gibt und andere Formen der Auseinandersetzungen. Einen Grund dafür sehe ich darin, dass zu wenig beachtet wird, wie die Menschen hier die Transformation, wie es beschwichtigend heißt, nach 1990 erlebt haben, und die in nahezu alle Biografien mehr oder weniger stark eingeschnitten hat.

Durch diese massiven Umbrüche sind die Menschen hier sehr skeptisch gegenüber jeder Form von Veränderung. Hinzukommt: Sie haben zu DDR-Zeiten einen restriktiven Staat erlebt, in dem man nicht alles offen aussprechen durfte. Wenn sie jetzt hören: 'Das darf man doch nicht sagen', dann brechen alte Wunden wieder auf.

KNA: Das klingt nachvollziehbar. Gleichwohl: Wieso ist es im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte nicht dazu gekommen, dass sich diese Menschen in dem oft konflikthaften Diskurs einer Demokratie allmählich zurechtfinden?

Neymeyr: Es hat aus meiner Sicht an der Wahrnehmung politischer Bildungsangebote dazu gemangelt, was es heißt, in einer parlamentarischen Demokratie zu leben. Es fehlt an Vertrauen in Institutionen und Prozesse, wie politische Meinungsbildung erfolgt. Auch eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat in der DDR nicht stattgefunden.

KNA: Sie sind ein "Wessi" und seit sieben Jahren Bischof des Bistums Erfurt. Wie lange haben Sie gebraucht, um ein Gefühl für den Osten zu bekommen?

Neymeyr: Da bin ich immer noch dabei. Nicht zuletzt, weil viele Katholiken, denen ich begegnet bin, auch Wessis sind. Zu den typischen Thüringern habe ich eigentlich überwiegend nur im privaten Kontext Beziehungen, weil sie mit Ausnahme der Eichsfelder traditionell religionslos oder evangelisch sind.

KNA: Manche sprechen auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch von den "neuen Bundesländern" - was haben Sie dort Neues erlebt, das Ihnen besonders nachgegangen ist?

Neymeyr: Ostdeutsche empfinden es als schwierig, wenn Westdeutsche glauben, die DDR-Zeit sei eine durch und durch schlimme und schwierige Erfahrung gewesen. Das war sie nicht. Auch wenn etwa die Katholiken Diskriminierungen ausgesetzt waren, so ist es doch nicht so, dass sie diese Zeit am liebsten aus ihrem Leben auslöschen wollten. Das waren keine verlorenen Jahre in ihrem Leben!

Ein Zweites: Bei der Friedlichen Revolution waren nicht nur Bürgerrechtler aktiv, sondern ganz viele Menschen, die sich vorher wenig politisch betätigt haben. Die haben plötzlich mutig mitgemacht. Mich beeindruckt es sehr, wenn ich höre, wie viele einfache Angestellte mit enorm hohem persönlichen Risiko mitgewirkt haben. Das hat die Menschen geprägt.

KNA: Schauen wir auf eine andere Prägung: Wenn Ostdeutschland in den bundesweiten Medien vorkommt, sind es sehr häufig negative Schlagzeilen. Was macht das mit den Menschen?

Neymeyr: Viele fühlen sich damit völlig falsch verstanden und über einen Kamm geschoren. Als seien "die" Ostdeutschen alle gleich. Ich glaube auch, dass manche Entwicklungen, die es in ganz Deutschland, auch europaweit, gibt wie etwa das Erstarken einer politischen Rechten, sehr verengt auf Ostdeutschland fokussiert werden. Sicher trägt zu diesem einseitigen Blick bei, dass viele Westdeutsche noch nie in Ostdeutschland waren. Da gibt es noch viel Unkenntnis, Desinteresse und dadurch eben auch viele Vorurteile.

KNA: Haben Sie es in der Deutschen Bischofskonferenz schon erlebt, dass explizit nach der ostdeutschen Perspektive gefragt wurde?

Neymeyr: Die bringen wir Ostbischöfe auch ungefragt ein. Wir müssen in der Bischofskonferenz schon dafür Sorge tragen, deutlich zu machen: Wir sind hier in einer anderen Weise Kirche als die großen Westbistümer. Bescheidener, aber nicht weniger wirkungsvoll. Begegnung ist immer hilfreich, um dafür ein Gespür zu bekommen. Deshalb halte ich es für so wichtig, dass der Katholikentag 2024 wieder in Ostdeutschland - in Erfurt - stattfindet, nach Leipzig 2016.

KNA: Gute Vorsätze fürs neue Jahr fasst man eigentlich für sich selbst. Gleichwohl: Was legen Sie Ost- und Westdeutschen für ihr Miteinander im 32. Jahr der Wiedervereinigung ans Herz?

Neymeyr: Sich füreinander wirklich zu interessieren und auch die Situation der Menschen und Christen in Ostdeutschland nicht nur aus den Schlagzeilen zur Kenntnis zu nehmen. Sich auch mal Zeit für die hintergründigeren Berichte nehmen, die es ja durchaus auch in den Medien gibt. Da sind viele positive Beispiele. Oder noch besser: Kommen Sie vorbei - Ost und West sollten wir am besten miteinander entdecken!

Das Interview führten Gregor Krumpholz und Karin Wollschläger.


Erfurter Dom / © Dominik Wolf (KNA)
Erfurter Dom / © Dominik Wolf ( KNA )
Quelle:
KNA