In der Villa war die so genannte "Dienstbesprechung mit Frühstück" von 15 Staatssekretären am 20. Januar 1942, die entscheidend wurde für den staatlich organisierten Massenmord an den europäischen Juden. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach mit dem stellvertretenden Direktor, Matthias Haß (55), über die Bedeutung von Erinnerung an die NS-Zeit, zunehmenden Antisemitismus und die Verwaltungsmentalität der Deutschen.
KNA: Herr Haß, wie erklären Sie sich diese extreme Diskrepanz: Beamte setzen sich gemütlich zum Frühstück zusammen und beschließen in 90 Minuten den Massenmord an den europäischen Juden. Offenbar hat ja keiner der 15 Männer Einwände gehabt...
Haß: Das Entscheidende ist, dass dort nichts beschlossen wurde, sondern die Staatssekretäre über die Umsetzung von Beschlüssen reden, die bereits Mitte Dezember 1941 gefallen sind - zumindest sehen die meisten Historiker das heute so. Man spricht also im Konkreten über die Umsetzung des Massenmordes. Außerdem sind diese 15 Männer an einem Punkt, an dem sie nicht mehr über die grundsätzlichen Fragen reden. Die mentale Vorbereitung hat schon lange vorher eingesetzt: "Die Juden sind ein Problem und die müssen weg" - das versteht sich von selbst. In der Frage der Deportation und Ermordung von 11 Millionen Juden herrscht Einigkeit.
KNA: Kann man sagen, dass die bürokratische Vorbereitung und Durchführung an sich etwas typisch Deutsches ist?
Haß: Es ist so, dass der funktionierende Verwaltungsstaat eine große Rolle bei der Umsetzung des Massenmordes spielte. Die Verbindung von Ausgrenzungs- und Mordpolitik mit Verwaltungshandeln war eine ungute Kombination. Und es gibt in Deutschland, glaube ich, schon eine spezifische Verwaltungsmentalität.
KNA: Bis zur Einrichtung einer Gedenk- und Bildungsstätte zur Wannsee-Konferenz hat es lange gedauert: Sie begeht am Mittwoch ihren 30. Geburtstag, dabei ist das Ende des Zweiten Weltkriegs und der NS-Zeit schon mehr als 80 Jahre her...
Haß: Das ist ganz typisch für den Umgang in der alten Bundesrepublik mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, der ja durch Verschweigen und Verdrängen gekennzeichnet war, sowohl gesellschaftlich als auch familiär. So war die gesellschaftliche Stimmung in den 1950er Jahren. Und dann hat man sich eben gedacht: "Was können wir mit dem Haus machen, ist ja schön gelegen am Wannsee und der Bezirk Neukölln braucht ein Schullandheim" - und so kam es dann auch.
Als der Auschwitz-Überlebende Joseph Wulf sich in den 1960er Jahren bemühte, dort stattdessen ein Dokumentationszentrum zur Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Folgewirkungen zu etablieren, stieß dieses Vorhaben fast überall auf Ablehnung: "Wir können unseren Kindern doch ihr schönes Schullandheim nicht wegnehmen." Erst Ende der 1980er Jahre war die Mehrheitsgesellschaft bereit, sich mit ihrer Vergangenheit und Beteiligung auseinanderzusetzen. Das war ja auf Seiten der Betroffenen ganz anders. Da war die Geschichte der Verfolgung über die Jahrzehnte immer viel präsenter. Das Trauma des Verlusts war ja allgegenwärtig.
KNA: Wieviel wissen die jungen Besucher noch über die Schoah und den Zweiten Weltkrieg?
Haß: In meiner Generation - ich bin rund 20 Jahre nach dem Krieg geboren - waren die Rahmendaten 1933 bis 1945 selbstverständlich. Und das sind sie auch noch für diejenigen, die in den 80er Jahren geboren wurden. Man wusste zumindest in Grundzügen, wovon man sprach. Das ist heute anders. Dennoch ist aber das Interesse der jungen Besucher an dem Thema Verfolgung und explizit der Geschichte der Verfolgung von Jüdinnen und Juden nach wie vor groß. Auch wenn vielleicht weniger historisches Wissen über diese Zeit präsent ist, die Bereitschaft, genau hinzugucken auch in die eigene Familiengeschichte, ist im Gegensatz zu früher stärker vorhanden. Das ist nicht gering einzuschätzen. Die Besuchszahlen in Gedenkstätten gehen nach wie vor bundesweit nach oben.
KNA: Laut Studien nimmt aber auch der Antisemitismus bundesweit zu. Beobachten Sie das auch?
Haß: Ja, es gibt mehr Vorfälle, und diese sind schockierender und viel direkter. Das zeigt sich bei uns in der Gedenkstätte etwa durch antisemitische Einträge in unser Gästebuch, die meist verschwurbelt, teilweise aber auch offen sind. Antisemitismus hat es nach 1945 immer gegeben. Bis vor etwa fünf Jahren gab es aber einen gewissen Konsens, wie wir uns in der Gesellschaft über das Thema Nationalsozialismus oder Antisemitismus unterhalten. Dass, was wir an Wiederaufleben von Vorurteilen, von Antisemitismus und von Verschwörungstheorien seitdem erleben, ist enorm, das hätte ich damals nicht für möglich gehalten. "Da sind welche im Hintergrund, die uns was wollen" - das ist ein klassisches antisemitisches Stereotyp von unsichtbaren Mächten. Das hängt im Moment vor allem mit der Kritik an den Pandemiemaßnahmen zusammen. Das Sprechen in antisemitischen Codes - etwa von "globalen Eliten" - ist hier sehr verbreitet.
KNA: Ihr Bildungsangebot ist spezifisch auf Berufsgruppen zugeschnitten. Wie kann man sich das vorstellen - was ist beim Krankenpfleger anders als bei der Ministerialbeamtin?
Haß: Alle unsere Besuchsgruppen werden zunächst über den historischen Hintergrund der Wannsee-Konferenz informiert. Danach findet dann ein Transfer auf die jeweilige Berufsgruppe statt: Wir machen klar, dass dieser Massenmord nicht jenseits der Gesellschaft stattgefunden hat.
Bei den Krankenpflegern geht es dann etwa um das NS-Gesellschaftsbild einer reinen "deutschblütigen" Gesellschaft und der Vernichtung von allem, was nicht dazu gehört und als "lebensunwert" definiert wird, also auch Menschen, die als behindert definiert werden. Wir werfen Fragen auf, nach dem Menschenbild in der heutigen Krankenpflege etwa.
Bei den Ministerialbeamten ist der Wiedererkennungswert von Verwaltungsvorgängen an sich enorm. Hier geht es über die historische Wissensvermittlung hinaus auch um eine Bewusstseinsvermittlung für die eigene Rolle. Zu sagen, "wir sind ja nur ein Rädchen im Getriebe", reicht auch heute nicht. Wir sind alle verantwortlich für das, was wir tun.