Bereits in der vergangenen Legislaturperiode hatte der religionspolitische Sprecher der SPD im Bundestag, Lars Castellucci, in Sachen Aufarbeitung von Missbrauch Druck gemacht und versucht, Verbündete zu finden. Mehrere Male hatte er religionspolitische Sprecher anderer Fraktionen eingeladen, um darüber zu diskutieren, wie der Staat sich stärker beteiligen könnte.
In einem Interview der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (Montag) spricht sich Castellucci erneut für eine Aufwertung der unabhängigen Aufarbeitungskommission aus. Sie müsse in die Lage versetzt werden, Prozesse zu überprüfen und zu bewerten. Und er klingt zuversichtlicher als in den vergangenen Monaten, dass das gelingt: Nicht nur durch den Koalitionsvertrag, auch im neuen Bundestag habe sich viel bewegt. Im neuen Parlament sei eine neue Generation vertreten, die "diese Dinge unbefangener und frischer anpackt".
Rechtsstaat für Aufklärung notwendig
Der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) hatte er in der vergangenen Woche gesagt, niemand könne sich selbst aufklären, dafür brauche es den Rechtsstaat. Und: Es brauche einen verbindlichen gemeinsamen und überprüfbaren Rahmen für die Aufarbeitung in ganz Deutschland, auch für andere Bereiche wie etwa den Sport.
Auch der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, spricht sich für eine solche Stärkung aus: Nach der Vorstellung des Münchner Gutachtens vor eineinhalb Wochen sagte er der KNA, die Politik müsse "höchstes Interesse" an einem Gelingen des Aufarbeitungsprozesses haben. Bislang gibt es keine gesetzliche Verankerung des 2016 eingesetzten Gremiums - seine Laufzeit ist bislang bis Ende 2023 angesetzt.
Aufarbeitungskommissionen in fast allen Bistümern
Zudem ist derzeit der Vorsitz vakant: Die Professorin für Sozialpädagogik und Familienforschung an der Goethe-Universität, Sabine Andresen, die das Gremium von Beginn an leitete, hatte das Amt aus beruflichen Gründen - derzeit arbeiten alle Mitglieder der Kommission ehrenamtlich - abgegeben. Bislang ist Grundlage der Einberufung ein Beschluss des Bundestags. Die Mitglieder der Kommission, zu denen auch der Sprecher des Eckigen Tisches, Matthias Katsch gehört, können Betroffene anhören, Rückschlüsse aus ihren Berichten ziehen - ein Recht etwa auf Akteneinsicht haben sie jedoch nicht.
Für Castellucci könnte die vor eineinhalb Jahren von Bischofskonferenz und Rörig unterzeichnete "Gemeinsame Erklärung" zur Aufarbeitung eine gute Grundlage für die Arbeit der Kommission sein. Dort wird den Bistümern ein einheitlicher Rahmen für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt vorgelegt. In fast allen Bistümern sind inzwischen Aufarbeitungskommissionen sowie Betroffenenräte eingerichtet.
Gesellschaft darf Thema nicht verdrängen
Auch Vertreter der katholischen Kirche zeigen sich seit einiger Zeit offen für eine staatliche Aufarbeitungskommission. Das erklärte zuletzt der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, in der ARD-Talkshow "Anne Will" am Sonntagabend. Vermutlich wird die Debatte darüber bei dem katholischen Reformprojekt "Synodaler Weg", das ab Donnerstag in Frankfurt/Main tagt, weitergehen.
Und Castellucci, der Katsch auch aus seiner politischen Arbeit kennt - dieser kandidierte bei der vergangenen Bundestagswahl für die SPD, schaffte den Einzug aber nicht -, macht sich auch für die Betroffenen stark: Sie bräuchten eine eigene Organisationsform, die "erst mal ihre ist, in der sie stark sind, in der sie auch Unterstützung haben, also Supervision, Beratung oder sonstige Dinge, die da vonnöten sind". Die Gesellschaft dürfe das Thema nicht verdrängen. Es müsse eine "Kultur des Hinsehens" geben, erklärt er in dem Interview - "ganz gleich, wo und wann und von wem sexualisierte Gewalt ausgeübt wird, ob im Sport, in der Schule, in Heimen, in der Familie oder eben in der Kirche".