Schon in der dritten Woche steht Navid Kermani mit seinem Buch "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen" an der Spitze der "Spiegel"-Bestsellerliste.
Es ist ein sehr persönliches Buch. Es geht im Vater-Tochter-Gespräch um die Weitergabe der Familientradition. Kermani, Reporter und Orientalist, gelehrter Muslim und Freund des Christentums, das er sich über die bildende Kunst erschloss, hat von seinem sterbenden Vater den Auftrag erhalten, seiner Tochter die Religiosität der eigenen Familie zu vermitteln: den Islam, mit dem der Flüchtling aus dem Iran aufgewachsen ist. Eine Verantwortung, die den Sohn fast überfordert, zumal seine zwölfjährige Tochter, die in Köln aufwächst und am katholischen Unterricht teilnimmt, altersgemäß alles in Frage stellt.
Glaube als existenzielle Bereicherung
Der Orientalist will seine Tochter davon überzeugen, dass es existentiell bereichernd sei, an Gott zu glauben. Was ihn beunruhigt, ist das verbreitete religiöse Unwissen. "Denn so wie der Glaube nur in Freiheit entstehen kann, setzt ihrerseits die Freiheit das Wissen voraus. Wenn du die Religion überhaupt nicht kennst, bist du auch nicht frei, dich von ihr abzuwenden."
Kermani besteht auf der Wahrheit seiner Religion, ohne Juden, Christen oder Hindus die ihre abzusprechen. Und ohne die dunklen Seiten der Religionen zu verschweigen – schließlich habe auch der Islam mit dem Schwert erobert. "Das Buch, das Opa sich gewünscht hat, ist kein Wettbewerb, bei dem am Ende der Islam auf Platz eins landen soll", schreibt er. "Solche Bücher gibt es genügend und Sieger ist zufällig immer die eigene Religion."
Religion ist Dankbarkeit
Es geht ihm um religiöse Musikalität – und um die großen Fragen, die aus seiner Sicht die meisten Religionen seit Jahrtausenden ähnlich beantworten. "Religion ist eine Beziehung zwischen dem Endlichen, das wir sind, und dem Unendlichen, das auch Gott genannt wird." Religion ist damit Kommunikation und eine Haltung – vor allem der Dankbarkeit, geboren worden und Teil dieser Welt zu sein. Aber auch der Klage und Anklage gegenüber Gott, der Leid und Tod zulässt.
Letztlich, so Kermani, können Menschen Gott niemals ganz begreifen.
Gott größer als menschliche Erkenntnis
Um das zu verdeutlichen, greift er auf eine mittelalterliche Parabel des persischen Dichters Dschalal ad-Din ar-Rumi zurück: Sechs blinde Männer sollen einen Elefanten beschreiben. Da jeder einen anderen Körperteil des Tieres untersucht, kommt jeder zu einer anderen Version – doch alle sind wahr. Gott, so Kermanis Interpretation, ist immer größer als menschliche Erkenntnis. Die Menschen müssen auf der Suche bleiben. Und zugleich lohnt es sich, an den Unterschieden festzuhalten, denn die Religionen beleuchten sich gegenseitig.
Dennoch zieht Kermani Vergleiche – vor allem zwischen Islam und Christentum. Aus seiner Sicht wirkt der Islam schlichter und lebensnäher. Beispielsweise übersetzt der Autor das hochgespannte Gebot der Feindesliebe in die einfachere Forderung, im Gegner immer auch den sterblichen Menschen zu sehen, der am Ende in die Grube fahren wird. Überhaupt überfordere das Christentum seine Anhänger oftmals, schreibt Kermani mit Blick auf den Foltertod Christi oder die Erzählungen von Erbsünde, Auferstehung und Dreieinigkeit.
Schöne Formeln des Christlichen Glaubens entwertet?
Beunruhigend findet er, dass das Christentum – vor allem in den westlichen Industriestaaten – verlernt habe, Religiöses zu vermitteln. Die Werbeindustrie habe all die schönen Formeln der Religion übernommen und damit entwertet. Eine neue theologische Sprache werde in den Kirchen zu wenig gesucht und gepflegt. Auch müsse es darum gehen, Religion über alle Sinne zu vermitteln - auch über Gesten, Farben und Gerüche.
Mit Blick auf seine eigene Religion macht der Orientalist die sogenannten Religionsführer für den Zustand der islamischen Welt verantwortlich: "Das ganze Elend des heutigen Islams lässt sich unter anderem damit erklären, dass ein Großteil unserer Gelehrten die lebendige und damit veränderliche Beziehung zum Koran verloren hat", schreibt er. Die Folgen: Rückständigkeit, Armut, Unvernunft, Humorlosigkeit, Fundamentalismus, Gewalt, Frauenfeindlichkeit. "So ein fast schon abgestorbener Islam hat nichts mehr zu sagen in einer Welt, in der nicht nur die Quantenphysik, sondern nach vielen Kriegen und Völkermorden endlich die Menschenrechte entdeckt worden sind." Dabei fänden die Muslime für beides eine Grundlage im Koran.