DOMRADIO.DE: Sie zeigen in Ihrem Buch "Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit" anhand von Beispielen auf, was früher tatsächlich besser war. Aber: War früher wirklich alles besser?
Prof. Dr. Annette Kehnel (Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim): Nein, ganz sicher nicht. Das ist die wichtige Warnung, die wir hier aussprechen müssen. Ich möchte nicht ins Mittelalter und ich glaube, keiner von uns möchte zurück in die Geschichte in dem Sinne, dass wir damals in einem verträumten Paradies gelebt hätten, in dem alle Friede, Freude, Eierkuchen ständig gefeiert haben. Das stimmt nicht. Aber es gibt eben historische Evidenz dafür, dass Menschen mehr können als das, was wir heute als hauptsächlichen Problemverursacher betrachten, nämlich Eigennutzen und Profit zu erwirtschaften. Diese Spuren versuche ich aufzunehmen.
DOMRADIO.DE: Können Sie uns mal ein Beispiel geben? Was können wir uns denn von unseren Vorfahren der Vormoderne abgucken?
Kehnel: Also eines der Beispiele sind Waldgenossenschaften. Der Umgang mit Ressourcen war in der Vormoderne ein ganz anderer. Natürlich auch deswegen, weil die Menschen viel unmittelbarer der Natur ausgeliefert waren als wir heute. Wir haben uns ja von der Natur auch distanziert. Zivilisation und Modernisierung bedeutet ja auch die Vergrößerung der Distanz zwischen Mensch und Natur. Und die Nähe zwischen Mensch und Natur jetzt im Beispiel Waldgenossenschaften, die lässt sich sehr schön zeigen, also die gemeinsame und vor allem nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder.
Dafür habe ich hier ein Beispiel – ich wohne in Mannheim, aus der Region, die sogenannten "Haingereiden" Waldgenossenschaften, die über ein halbes Jahrtausend in der südlichen Pfalz und im nördlichen Elsass betrieben wurden, wo sich einfach die Menschen zusammentaten und nach ganz konkreten, festen Regeln eine nachhaltige Form der Nutzung des Waldes betrieben. Es hat funktioniert – sehr erstaunlich.
DOMRADIO.DE: Ein weiteres Beispiel, was in eine ähnliche Richtung geht, sind die im Bodenseefischer, die den See schon im 14. Jahrhundert als Allmende, also als Gemeingut nutzten. Ist auch das ein Beispiel für das, was Sie gerade angeführt haben?
Kehnel: Genau. Das wäre auch ein schönes Beispiel für den nachhaltigen Umgang mit der Ressource Wasser. Das ist ein großes Problem für uns heute: Die Ozeane und die Vermüllung des Gemeingutes Wasser. Der Bodensee ist insofern ein schönes Beispiel: Der gehörte niemandem, aber alle haben gefischt und es war sozusagen eine Nutzergemeinschaft. Diese Nutzergemeinschaft hatte natürlich nicht nur ein Interesse daran, möglichst viel aus dem See herauszuholen – das auch, aber gleichzeitig hatten sie auch ein Interesse daran, möglichst langfristig diese Ressource Bodensee nutzen zu können. Dafür haben sie sich Regeln gegeben, die jährlich auf sogenannten Fischertagen je nach Witterungsbedingungen, je nach Situation im See, je nach Fischbestand neu verhandelt wurden.
Und wenn es wenig Bodenseefelchen (Fisch, der am Bodensee vorkommt, d. Red.) gab, dann wurde die Maschengröße der Netze erweitert, sodass mehr Jungfische überlebten und laichen konnten. Diese Anpassung, diese Feinabstimmung zwischen lokalen Gegebenheiten und den jeweiligen Nutzergemeinschaften, ich glaube, das war damals das Geheimnis, was durch Zentralisierung und durch im Grunde staatliche zentrale Vorgaben, die ein für alle Mal Bestand haben sollten, dann in der Zeit Napoleons eigentlich, also im frühen 19. Jahrhundert verloren gingen und tatsächlich auch zu einer Überfischung geführt haben. Der See hatte damals eine schlechte Zeit im 19. Jahrhundert. Die Fischer haben sich dann wieder darauf besonnen und auch ihr Recht auf Selbstbestimmung durchgesetzt.
DOMRADIO.DE: Das sind spannende Geschichten, die an Aktualität kaum zu übertreffen wären. Wie sind Sie auf die Idee für dieses Buch gekommen?
Kehnel: Ich habe täglich mit Studierenden zu tun, ich habe Kinder, ich habe Enkel, das heißt, die Notwendigkeit zu handeln und uns jetzt dafür einzusetzen, dass wir eine Zukunft haben, dass unsere Kinder und die nächste Generation eine Zukunft hat, die hat sich einfach immer mehr aufgedrängt. Und spätestens mit "Fridays for Future" wurde das Thema ja auch so auf die Straße getragen. Ich glaube, jetzt ist das Zeitfenster, in der unsere Generation – ich gehöre zu den Babyboomern – noch handeln kann. Wir können die Jungen unterstützen und ihnen Rückenwind geben.
Ich als Historikerin habe mich da auf die Spurensuche gemacht, nach der Geschichte der Nachhaltigkeit nachgespürt und war wirklich total überrascht. So viele erstaunliche Befunde. Ich hoffe einfach nur, dass das, was jeder von uns tun kann mit den Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, ein Stück Hoffnung gibt auch für die Unterstützung der Jungen und der Menschen, die dann die Folgen des Klimawandels hier auf dem Planeten tatsächlich auch ausbaden werden müssen. Unsere Generation hat noch Glück. Wir gehören ja zu den Profiteuren und werden nicht mehr so viel die Folgen ertragen müssen, aber die Kinder, da sieht es anders aus.
DOMRADIO.DE: Das würde ich gerne noch mal vertiefen. Frau Kehnel, Sie haben jetzt gerade von der Notwendigkeit zu handeln gesprochen. Gleichzeitig haben Sie bei der Verleihung des NDR-Sachbuchpreises für Ihr Buch gesagt, wir haben Angst vor Veränderung, Angst vor Verlusten. Woher kommt diese Angst? Und viel wichtiger: Was können wir gegen diese Angst tun?
Kehnel: Das ist eigentlich die entscheidende Frage. Ich habe gestern dazu einen anderen Vortrag gehört. Und ein großes Hemmnis ist natürlich unser "Status quo-Bias", also wir wollen, dass die Welt so bleibt, wie sie ist und wie wir sie gewohnt sind. Wir tun so, als wäre Stabilität das Normale, was aber völlig kontrafaktisch ist. Als Historikerin weiß ich: Eigentlich ist das Normalste die Veränderung. Und diese Angst vor Veränderung treibt ganz erstaunliche Blüten. Ein Konzept, was ich jetzt neu gelernt habe, war "Deliberate Ignorance", also freiwillige Ignoranz, freiwilliges Unwissen. Wir wissen eigentlich, wie wir uns zu verhalten haben, aber wir ignorieren es, wenn es jetzt um Fleischessen oder den CO2-Ausstoß geht. Wir kennen die Fakten. Sie liegen auf dem Tisch, aber wir tun so, als wäre alles nicht so schlimm.
Woher kommt die Angst? Das ist schwierig, natürlich. Bei uns in den westlich-zivilisierten Industrienationen kommt sie daher, dass wir sehr viel zu verlieren haben, weil wir eben zu den Profiteuren gehören. Wir merken jetzt schon bei den ganzen Flüchtlingen, die aus der Ukraine kommen: Das kann sich so schnell ändern, dieses Blatt. Stellen Sie sich vor, in ein paar Jahren, dass auf einmal der reiche Westen fliehen muss und woanders Zuflucht sucht. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht so gering, dass auch wir demnächst in einer Situation sein werden, die uns sehr hilflos sein lässt. Und diese Möglichkeiten der Entwicklung, die wollen wir nicht sehen.
Die Geschichte zeigt, dass Veränderung der Normalfall ist. Und die Geschichte zeigt auch, dass Menschen Veränderungen sehr, sehr gut können. Deswegen plädiere ich dafür, dass wir die Veränderung, diese notwendigen Transformationsprozesse eben nicht den Krisen überlassen sollen. Sie erinnern sich, als die Pandemie damals begann, wurden die Flugaktivitäten alle heruntergefahren – und plötzlich war ein blauer Himmel über Peking. Veränderung geht also sehr, sehr schnell – und wir können sie auch. Aber wir warten immer auf Krisen, um die dann auch voranzutreiben. Das ist nicht so eine gute Eigenschaft von uns Menschen. Also müssen wir uns einen Ruck geben und sagen: "Okay, lasst uns das so selber gestalten und nicht warten, bis die nächste Krise uns dazu zwingt."
Das Interview führte Moritz Dege.
Weitere Informationen: Prof. Dr. Annette Kehnel hat zum Thema das Buch "Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit" geschrieben. Es ist im Blessing Verlag erschienen. Zu dem Thema wird Annette Kehnel zudem in der Karl Rahner Akademie am Tag des Waldes, am 21.03.2022, ab 19 Uhr sprechen.