KNA: Hat sich im Vergleich zu 2015 eine gewisse "Routine" bei der Aufnahme von Geflüchteten eingestellt?
Erzbischof Stefan Heße (Erzbischof von Hamburg und Vorsitzender der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz): Wir erleben in Europa derzeit die am schnellsten wachsende Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Von "Routine" kann daher keine Rede sein, auch wenn es einiges an bewährten Strukturen und praktischer Erfahrung gibt. Derart viele Schutzsuchende aufzunehmen, ist eine Gemeinschaftsaufgabe, die jeden fordert: Mitarbeiter der staatlichen Stellen, Engagierte aus der Zivilgesellschaft ebenso wie die zahlreichen Haupt- und Ehrenamtlichen der kirchlichen Flüchtlingshilfe.
KNA: Ist der Flüchtlingsbischof in diesen Tagen besonders gefragt?
Heße: Natürlich ist da auch der katholische Flüchtlingsbischof gefragt, wobei man ehrlicherweise sagen muss: Ohne die herausragende Hilfsbereitschaft an der Basis würde es nicht gehen. Da werden innerhalb kürzester Zeit Initiativen aus den Jahren 2015/2016 reaktiviert. Und es kommt auch viel Neues an Engagement dazu. Die Botschaft ist bei alledem klar: Als Kirche stehen wir an der Seite der notleidenden Ukrainerinnen und Ukrainer.
KNA: Was kann Kirche - im Kleinen wie im Großen - bewirken, um den Menschen zu helfen und auf ein Ende des Krieges in der Ukraine hinzuwirken?
Heße: Wir können das unermessliche Leid, das der russische Angriffskrieg über die Menschen bringt, nicht ungeschehen machen. Aber wir zeigen unsere tatkräftige Solidarität, indem wir uns für eine menschenwürdige Aufnahme in Deutschland und für eine wirksame Nothilfe vor Ort einsetzen. Als Teil der Weltkirche greifen wir dabei auf unsere guten Kontakte zur Caritas in der Ukraine und in Polen sowie zu weiteren kirchlichen Organisationen zurück. Neben der Caritas sind beispielsweise Renovabis, die Malteser und viele Ordensgemeinschaften überaus engagiert.
KNA: Manche Menschen fragen sich vielleicht auch mehrere Wochen nach Kriegsbeginn, wo sie sich selbst am sinnvollsten einbringen können. Was sagen Sie denen?
Heße: Was der einzelne Gläubige tun kann, lässt sich vielleicht am besten mit einem Dreiklang beschreiben: die professionellen Dienste der Hilfswerke unterstützen, vor allem durch Geldspenden, sich selbst in der Flüchtlingsarbeit vor Ort einbringen und selbstverständlich in einem guten ökumenischen Miteinander für den Frieden beten. Ich bin dankbar, dass viele Menschen in unseren Kirchengemeinden Botschafter der Mitmenschlichkeit und des Friedens sind.
KNA: Der nächste katholische Flüchtlingsgipfel findet Anfang Mai statt. Was steht dort auf der Agenda?
Heße: Einmal im Jahr lade ich als Sonderbeauftragter für Flüchtlingsfragen die Verantwortlichen der katholischen Flüchtlingsarbeit zu einem größeren Austauschtreffen ein. Für den 3. Mai ist ein solcher katholischer Flüchtlingsgipfel in Erfurt geplant. Dabei werden wir uns auch mit der Situation der ukrainischen Geflüchteten beschäftigen. Und wir werden uns über ein Dokument austauschen, das im Verlauf des letzten Jahres in einem partizipativen Prozess entstanden ist: 16 Thesen zur Integration. Aufbauend auf dem ökumenischen Migrationswort "Migration menschenwürdig gestalten" formulieren die Thesen einen Rahmen für die praktische Integrationsarbeit der katholischen Kirche.
KNA: Wozu braucht es diese Thesen unter der Überschrift "Anerkennung und Teilhabe"?
Heße: Die wesentlichen Grundhaltungen spiegeln sich im Titel des Dokuments wider: Letztlich geht es darum, den Menschen, die in unser Land kommen und hier für eine gewisse Zeit bleiben, Anerkennung und Teilhabe zu ermöglichen. Dies erfordert einerseits eine Offenheit für Vielfalt und Wandel in unserer Gesellschaft, die Bereitschaft, bestimmte Grenzziehungen abzubauen, andererseits aber auch eine klare Orientierung an Normen, die für unser Zusammenleben grundlegend sind.
KNA: Was halten Sie von dem von manchen Politikern, Verbänden und Kommunen vorgebrachten Ruf nach einem Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt?
Heße: In der Vergangenheit habe ich immer wieder an den Flüchtlingsgipfeln im Kanzleramt teilgenommen und habe sie als informativ in Erinnerung. Ein Mehrwert besteht vor allem in der öffentlichen Signalwirkung: Bund, Länder und Kommunen, Zivilgesellschaft und Kirche gehen die Herausforderungen bei der Aufnahme von Geflüchteten gemeinsam an. Ob ein großer Gipfel im Kanzleramt aktuell notwendig ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass die Zusammenarbeit und Koordination zwischen den unterschiedlichen Akteuren gut funktioniert. Das sind wir den schutzsuchenden Menschen schuldig.
KNA: Die Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge aus der Ukraine ist enorm - nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Ländern Osteuropas. Das war und ist bei der Aufnahme von Menschen aus islamischen Ländern anders. Die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge aus Afrika lässt Europa - zugespitzt formuliert - im Mittelmeer ertrinken. Haben wir in der öffentlichen Wahrnehmung unterschiedliche Kategorien von Flüchtlingen?
Heße: Wenn man die Hilfsbereitschaft gegenüber ukrainischen Geflüchteten als potenziell diskriminierend brandmarkt, ist niemandem geholfen. In Polen und in weiteren Ländern der Region erleben wir aktuell eine großartige Welle der Solidarität. Dies gibt Anlass zur Dankbarkeit - verbunden mit der Hoffnung, dass unsere europäische Verbundenheit auch längerfristig gestärkt wird. Generell lässt sich sagen, dass im Kriegsfall die Hilfsbereitschaft der Nachbarn besonders gefragt ist. So sind die Türkei, der Libanon und Jordanien nach wie vor die drei wichtigsten Aufnahmeländer für syrische Schutzsuchende.
KNA: Aber wie reagieren auf die zum Teil unterschiedliche Aufnahmebereitschaft in Europa?
Heße: Falsch wäre es, das Leid der einen und der anderen gegeneinander auszuspielen. Es muss der Grundsatz gelten: Wer schutzbedürftig ist, hat Anspruch auf eine menschenwürdige Aufnahme - unabhängig von Herkunft oder Religion. Dies betrifft in der aktuellen Lage auch Drittstaatsangehörige aus Afrika oder aus dem Mittleren Osten, die aus der Ukraine fliehen. Wo rassistische Ressentiments am Werk sind, müssen wir als Kirche unmissverständlich für die gleiche Würde aller Menschen eintreten.
Das Interview führte Joachim Heinz.