DOMRADIO.DE: Was sind denn die wichtigsten Gründe für einen Austritt?
Petra-Angela Ahrens (Kirchensoziologin am Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche Deutschlands / EKD): Wir müssen zwischen konkreten Anlässen, die es für einen Kirchenaustritt gibt und tiefer liegenden Gründen unterscheiden. So haben wir jedenfalls bei der Auswertung unterschieden.
Da muss ich gleich auf den ersten deutlichen Unterschied zwischen vormals evangelischen und katholischen Kirchenmitgliedern hinweisen: Bei den ehemals Evangelischen steht die Kirchensteuer an erster Stelle und bei den vormals Katholischen ist es die Unglaubwürdigkeit der Kirche.
DOMRADIO.DE: Es soll auch Menschen geben, denen die Kirche zu modern ist. Die geben als Austrittsgrund an, ihre Kirche biedere sich dem Zeitgeist an. Gibt es das auch bei beiden Konfessionen?
Ahrens: Ja, das gibt es bei beiden Konfessionen. Es ist eine Minderheit, die das sagt. Bei den gewesenen Evangelischen etwa ein Drittel, bei den ehemals Katholischen 28 Prozent. Das ist eine Minderheit, aber keine unbedeutende Minderheit. Die genaueren Analysen zeigen, dass diese Gruppe sich sozusagen eine Kirche wünscht, die ein Gegenüber zum Zeitgeist darstellt und sich davon unabhängig macht.
DOMRADIO.DE: Gibt es Gründe für einen Austritt, die Sie überrascht haben?
Ahrens: Etwas hat mich insgesamt überrascht. Wir haben ein Muster von Austrittsgründen, das ich als "persönliche Irrelevanz von Kirche" bezeichne. Das findet sich gleichermaßen bei ehemals Katholischen und Evangelischen. Das ist auch kombiniert mit der Ersparnis der Kirchensteuer eine Kosten-Nutzen-Überlegung. Was daran auffällt und zu denken gibt: Dies ist ein sehr, sehr altes Muster bei Austrittsgründen, das sich schon in den allerersten Studien aus den 1970er Jahren findet. Nur heute verschafft das in den Kirchen stärkere Aufregung, weil wir jetzt eine sehr viel geringere Zahl an Kirchenmitgliedern haben. Dadurch spielt das eine größere Rolle. Damals wurde darauf nicht reagiert.
DOMRADIO.DE: Immer wieder sagen Leute auch: "Glauben kann ich auch ohne Kirche". Ist das bei beiden Konfessionen etwa gleich?
Ahrens: Das ist bei beiden Konfessionen etwa ähnlich. Im Übrigen sagt das überraschenderweise eine große Mehrheit. Das spielt an das "Christsein ohne Kirche" an. Ich bin eigentlich immer davon ausgegangen, dass das eine leichte Begründung und Rechtfertigung ist, die man sich im Nachhinein zulegt. Aber tatsächlich zeigt sich bei den Ausgetretenen beider Konfessionen, dass diejenigen, die dieser Aussage zustimmen, noch etwas religiöser sind als die anderen. Da ist also wirklich etwas dran.
DOMRADIO.DE: Haben Sie neben den Gründen auch erkennen können, wie solche Entfremdungsprozesse von den Kirchen ablaufen?
Ahrens: Ja, und da muss man wirklich große Unterschiede zwischen ehemals evangelischen und katholischen Mitgliedern feststellen. Was wir aus der Forschung kennen, ist das allmähliche Nachlassen der Religiosität über die Generationen hinweg. Das erkennen wir auch deutlich bei den Evangelischen, die schon ihre Eltern als überwiegend nicht religiös empfunden haben und auch überwiegend keine religiöse Erziehung erfahren haben.
Genau dies stellt sich aber bei den Katholischen anders dar. Da überwiegt auch in der eigenen Erziehung noch die stärkere Religiosität. Wenn Sie dann zur aktuellen Einschätzung kommen, finden Sie kaum Unterschiede zu den Evangelischen. Daraus folgere ich, dass bei den vormals Katholischen irgendwo zwischen Kindheit und Jugend eine Art Bruch stattgefunden haben muss. Dieser Bruch hat sich auch noch an anderen Fragen gezeigt.
DOMRADIO.DE: Zum ersten Mal liegen solche Ergebnisse auf dem Tisch. Ihre Analyse leistet Pionierarbeit. Was sollten die Kirchen Ihrer Meinung nach mit den Ergebnissen anfangen?
Ahrens: Sie werden sie ernsthaft zur Kenntnis nehmen, das ist der erste Punkt. Es stellt sich die herausfordernde Frage: Wo lässt sich noch irgendwie ein Hebel bewegen, um dem Aderlass etwas entgegenzusetzen? Es ist unklar, ob sich solche Hebel finden lassen.
Aber es ist doch wichtig, dass man den verschiedenen Sozialisationsinstanzen in Kindheit und Jugend stärker nachgeht. Ganz deutlich habe ich das eben anhand der Ergebnisse für die vormals Katholischen geschildert. Ich glaube, daraus könnte man weiterreichende Erkenntnisse ziehen.
Ich will nicht sagen, dass man dann Handlungsrezepte ableiten kann, aber dass man in diesen Bereichen noch stärkere Impulse setzen kann. Da wissen wir bis heute immer noch zu wenig.
Das Interview führte Hilde Regeniter.