Manche nennen sie die "deutsche Astrid Lindgren". Tatsächlich schätzt Kirsten Boie die heile Welt ihrer berühmten Kollegin, doch auch sie packt schwierige bis schmerzliche Themen an; wie in ihrem 2021 veröffentlichten Roman "Dunkelnacht". Für ihn erhält Kirsten Boie an diesem Donnerstag in Würzburg den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2022 der Deutschen Bischofskonferenz.
Der Roman um den weiteren sinnlosen Tod von 16 Menschen im bayerischen Penzberg kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs greift die Frage nach individueller wie kollektiver Schuld auf. 2020 war die Autorin auf den Fall gestoßen und hatte akribisch vor Ort recherchiert.
"Kirsten Boie flicht die historischen Fakten dieses Endphasenverbrechens minutiös in ihre Erzählung ein und fiktionalisiert die Ereignisse mithilfe von drei jugendlichen Figuren", heißt es in der Jurybegründung der Bischofskonferenz. Ohne zu moralisieren zeige Boie ethische Haltungen auf und ermögliche im Erzählen Widerstand und Selbstermächtigung - feinfühlig formuliert für eine Generation, die kaum mehr authentischen Zugang zu den Ereignissen bekomme, so die Bischöfe. "Gerade jetzt soll damit ein Text ausgezeichnet werden, in dem und durch den soziale Verantwortung und Nächstenliebe auf besondere Weise eingefordert werden."
Bisher über 100 Bücher
Soziale Verantwortung und Nächstenliebe sind Werte, die Boie in ihren weit über 100 Büchern immer wieder zum Ausdruck bringt - auch bedingt durch eigenes Erleben. Zum Schreiben kam Boie eigentlich durch das Jugendamt: Nachdem sie mit ihrem Mann 1983 einen Sohn adoptierte, durfte sie auf Geheiß der Behörde nicht mehr arbeiten. Also beschloss die Lehrerin, stattdessen zu schreiben. Ihr Debütroman "Paule ist ein Glücksgriff", nicht ganz zufällig die Geschichte eines schwarzen Adoptivkindes, begeisterte 1985 Publikum und Kritik und schaffte es sogar auf die Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis. Im gleichen Jahr gesellte sich bei Familie Boie zum Sohn eine Adoptivtochter. Und der Autorin gelangen weitere literarische Erfolge.
So folgten über die Jahre Bücher wie "Der kleine Ritter Trenk", "Seeräubermoses", "Skogland", "Lena", "Sommerby" und vor allem die "Möwenweg"-Bände: Boies Erfolg machen nicht nur ihr lebendiger Stil und die originellen Plots aus unterschiedlichen Kulturen und Epochen aus. Auch ernste Themen scheut die Autorin nicht. So etwa Rassismus ("Schwarze Lügen"), Flucht ("Bestimmt wird alles gut"), Aids-Waisen ("Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen") sowie Aufarbeitung der NS-Zeit ("Ringel, Rangel, Rosen" und "Dunkelnacht").
Eintreten für mehr Respekt
2009 schrieb sie auf Anregung des Hamburger Straßenmagazins "Hinz&Kunzt" das Buch "Ein mittelschönes Leben": die Geschichte eines Mannes, der durch Schicksalsschläge Arbeit, Familie und sein Dach über dem Kopf verliert. "So wollte ich deutlich machen, das sind nicht andere Menschen als wir, sondern das kann fast jedem ganz schnell passieren", sagte Boie der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). "Wir wünschen uns mehr Respekt für diese Menschen!"
Respekt zollt sie auch ihren jungen Lesern, indem sie sie ernst nimmt - und ihnen mitunter einiges zumutet. "Alles, was es im Leben gibt, darf es auch in der Kinderliteratur geben", sagte Boie der KNA. "Wenn Kinder irgendwann mit Krisen konfrontiert sind, dann halte ich es für sehr wichtig, dass es Texte gibt, die ihnen davon erzählen und ihnen helfen, sich damit auseinanderzusetzen."
Ihre besondere Liebe gehört Afrika. Mit ihrem Detektivroman "Thabo" etwa wollte die Hamburgerin (72) das Image des Kontinents korrigieren - weg von Elend und Trostlosigkeit. Boie selbst unterstützt mit ihrer gemeinsam mit ihrem Mann gegründeten Möwenweg-Stiftung unter anderem ein Aids-Waisenprojekt in Swasiland.
Für ihre literarischen und sozialen Verdienste wurde sie unter anderem mit dem Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur für ihr Lebenswerk, dem Bundesverdienstorden und dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr Gesamtwerk geehrt. Nun folgt die nächste Auszeichnung.