Besuch in der ältesten Glockengießerei der Welt

Spektakuläres Handwerk wie zu Schillers Zeiten

Ein Besuch in der weltweit ältesten Glockengießerei: der "Glocken- und Kunstgießerei Rincker" im mittelhessischen Ort Sinn. Dort werden Kirchenglocken heute noch gegossen wie vor 1.000 Jahren.

Autor/in:
Norbert Demuth
Werkstatt der Glocken- und Kunstgießerei Rincker in Sinn / © Bert Bostelmann (KNA)
Werkstatt der Glocken- und Kunstgießerei Rincker in Sinn / © Bert Bostelmann ( KNA )

Ihr Klang reicht über ganze Stadtgebiete: hell oder dunkel, fröhlich bimmelnd oder streng mahnend, immer aber unverwechselbar. Kirchenglocken müssen aus besonderem Metall sein, sollen sie schwingend erklingen. Doch der Guss einer Glocke ist auch 2022 ein Handwerk und keine Hightech-Angelegenheit.

78 Prozent Kupfer und 22 Prozent Zinn

Das wird jedem klar, der die Werkstatt der Glocken- und Kunstgießerei Rincker im kleinen mittelhessischen Ort Sinn betritt. Der seit 1590 bestehende Betrieb ist nach Angaben von Mitinhaber Fritz Georg Rincker (57) nicht nur die älteste Glockengießerei in Europa in Familienbesitz. "Inzwischen sind wir weltweit die älteste Glockengießerei überhaupt", sagt Rincker der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Denn das Londoner Unternehmen Whitechapel Bell Foundry, das lange diesen Weltrekord hielt, wurde 2017 geschlossen.

In der urtümlichen Werkstatthalle von Rincker brodelt der kreisrunde Schmelzofen unter Neonröhren fauchend seit dem frühen Morgen. Rund 500 Kilo Metall werden hier eingeschmolzen: Keine Goldbarren, aber Barren aus Kupfer und Zinn, die bei höllischen 1.100 Grad Celsius flüssig werden. "78 Prozent Kupfer und 22 Prozent Zinn - diese Glockenbronze ist die ideale Legierung für jede Glocke", verrät Fritz Georg Rincker, der den Familienbetrieb mit seinem Bruder Hanns Martin führt.

Zunächst wirkt alles noch recht unspektakulär: Denn die drei Kirchenglocken, die an jenem Freitag gegossen werden sollen, sieht man nicht in ihrer Entstehung. Vom Schmelzofen führen drei - etwa 20 Zentimeter breit gemauerte - Kanäle zur Gießgrube, in die aus Lehm gebrannte Formen der drei Glocken tief eingegraben sind. "Fest gemauert in der Erden - steht die Form, aus Lehm gebrannt", dichtete schon 1799 Friedrich Schiller in seinem "Lied von der Glocke".

Gebet für den Guss der Glocke

Die kleinste der drei Glocken ist für den Amtssitz des evangelischen Militärdekans in Berlin bestimmt und wiegt "nur" 78 Kilogramm. Die zweite mit einem Gewicht von 162 Kilogramm soll in der Evangelischen Dorfkirche Lichterfelde in der brandenburgischen Stadt Baruth/Mark erklingen. Die dritte Glocke geht an eine katholische Kirche in der sächsischen Kleinstadt Reichenbach in der Oberlausitz und ist 321 Kilogramm schwer.

Rund 20 Gemeindemitglieder der Pfarrei Sankt Marien aus Reichenbach im Vogtland sind gekommen, zusammen mit ihrem Pfarrer Josef Reichl. Er betet mit umgelegter Stola: "Allmächtiger Gott, Herr des Himmels und der Erde, sieh auf das Werk unserer Hände und segne dieses flüssige Metall, das für den Guss einer Glocke bestimmt ist."

Um 11.00 Uhr morgens ist es endlich soweit: Hydraulisch wird zunächst der Schmelzofen schräg gekippt: Das glühend heiße, flüssige Metall - leuchtend orange wie ein Lavastrom - plätschert zunächst in den ersten Kanal. Am Ende jedes der drei Kanäle verschließt jeweils eine Eisenstange das Eingussloch der vergrabenen Glockenform aus Lehm - bei der das, was später die Metallglocke wird, millimetergenau ausgespart ist.

Vier Mitarbeiter mit Schutzanzügen, rotem Helm und einem Visier vor den Augen stehen auf der festgetretenen Erde. Als einer von ihnen die erste Eisenstange zieht, fließt die "Lava" funkensprühend und laut gurgelnd in die unterirdische Form. Als das flüssige Metall unter der Erde verschwindet, herrscht unter den Anwesenden andächtige Stille. Der Vorgang wird bei der zweiten und der dritten Glocke wiederholt.

Mathematik, Winkel und Radien

Arbeiter mit Helm und Gesichtsschutz arbeiten am Schmelzofen bei der Produktion einer Glocke / © Bert Bostelmann (KNA)
Arbeiter mit Helm und Gesichtsschutz arbeiten am Schmelzofen bei der Produktion einer Glocke / © Bert Bostelmann ( KNA )

Sechs bis acht Wochen dauerte es, die Lehm-Glockenformen herzustellen. Der Guss der drei Metallglocken selbst braucht dann insgesamt gerade mal fünf Minuten. "Sehr geehrte Damen und Herren - das war's!", sagt Fritz Georg Rincker. Die paar Quadratmeter Erde des Geschehens sehen nun aus wie ein verlassener, verbrannter Grillplatz.

Pfarrer Reichl stimmt das Lied "Lobet den Herren" an. Für den Familienbetrieb Rincker ist das Glockengießen kein Handwerk wie jedes andere. Vor dem Firmengebäude steht unter dem Firmennamen eine zwei Meter große Christus-Statue mit ausgebreiteten Händen.

"Die Glocken werden im Endeffekt genauso gefertigt wie vor 1.000 Jahren, als die Glocke durch Wandermönche nach Europa kam", so Rincker. Die Mönche hatten im asiatischen Raum das Fertigen des Gongs kennengelernt.

Jede Glocke hat eine bestimmte Wandstärke, die ihren Ton bestimmt. "Bruchteile von Millimetern in der Wandstärke verändern den Ton", erläutert Rincker, der seit 32 Jahren im Familienbetrieb arbeitet. Doch wie berechnet man den Ton? Das sei ein "Gießergeheimnis", das von Generation zu Generation weitergegeben werde - inzwischen bei Rincker in der 14. Generation. Nur so viel: Es geht es um Mathematik, Winkel und Radien.

Auf einen Sechzehntel Halbton genau werden die Glocken gegossen. Aber: "Den Ton, den man hört, gibt es gar nicht", sagt Rincker. "Das ist eine Mixtur mehrerer Töne." Berechnet wird, an welcher Stelle die Glocke wie stark sein muss, damit sich die entsprechenden Teiltöne bilden.

Glockengießerei – ein Verlustgeschäft

Die gegossenen Glocken in der Erde kühlen mindestens 24 Stunden ab. Erst drei Tage nach dem Guss beginnen die Mitarbeiter damit, die erkalteten Glocken auszugraben. Ein Kran hievt sie dann aus der Grube und wirft sie um. Der Sinn: Der Kern ist aus Lehm, und der muss raus, bevor die Glocke aufgestellt und angeschlagen wird - der spannendste Moment. Mit einer Stimmgabel werden dann die einzelnen Teiltöne "abgeprüft".

Mehr als 20.000 große Glocken hat die Firma Rincker schon gegossen - seit 1859, dem Beginn der Zählung. Von Rincker stammen zahlreiche Glocken des Großen Stadtgeläuts in Frankfurt am Main und in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin. Doch das Renommee des Unternehmens lockt auch Diebe an. Im Juni 2022 waren Unbekannte in die Glocken- und Kunstgießerei eingedrungen und stahlen hochwertige Metalle, Glocken und Kunstwerke - offenbar professionelle Metalldiebe, so Rincker.

Doch auch unabhängig von diesem für die Firma schockierenden Ereignis gilt: Heute wird man mit dem Glockengießen nicht mehr reich - im Gegenteil. "Das ist ein Verlustgeschäft", sagt Rincker. Die Metallpreise seien zuletzt extrem gestiegen - durch unterbrochene Lieferketten, Abhängigkeiten von China, die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg. Gemeinden - die schon mal rund 100.000 Euro für eine komplette Installation einer großen Glockenanlage berappen müssen - erteilen immer weniger Aufträge. Immer mehr Glockengießereien geben auf. Heute gibt es in Deutschland neben Rincker nur noch zwei weitere Glockengießereien, 2015 waren es noch fünf.

"Belieferte Kunden sind verlorene Kunden"

Heute gegossene Glocken halten laut Rincker "im Prinzip ewig". Statistiker geben die Lebensdauer mit durchschnittlich 360 Jahren an - eingerechnet sind Kriege, die statistisch die Lebensdauer von Glocken verkürzen. Denn in Kriegen wurden zigtausende Glocken eingeschmolzen, um aus ihrem Metall Geschütze, Granaten und Geschosse herzustellen.

In Sinn werden nur noch vier oder fünf Mal pro Jahr Glocken gegossen. Und wer eine Glocke hat, braucht im Normalfall lange Zeit keine mehr. "Belieferte Kunden sind verlorene Kunden", sagt Rincker lapidar. Sein Betrieb mit rund 20 Mitarbeitern verdient Geld heute zwar auch mit der Herstellung von Glocken sowie der Wartung, Pflege und Reparatur ganzer Glockenanlagen, vor allem aber mit der Kunstgießerei.

Bekannt wurden etwa die lebensgroße Elvis-Presley-Bronzestatue in Bad Nauheim oder ein fürs damalige Außenministerium unter Joschka Fischer neu designter Bundesadler. Mehrere 3D-Drucker setzt Rincker heute ein. Hightech, aber nicht für die Glocken. Die werden weiterhin wie seit tausend Jahren und auch zu Schillers Zeiten aus glühend heißem Metall gegossen.

Quelle:
KNA