Nur Stunden, nachdem der US-Supreme Court die seit 1973 geltende Rechtssprechung zu Abtreibung gekippt hatte, schritt Stephany Bolivar zur Tat. "Wenn Sie Hilfe brauchen, um in einem anderen Bundesstaat abtreiben zu lassen, kann ich Ihnen helfen", postete die Software-Ingenieurin aus New York auf Facebook. Ab diesem Moment nämlich ging die Zuständigkeit für die Regulierung von Schwangerschaftsabbrüchen an die Bundesstaaten zurück. Dort besteht ein Flickenteppich an Gesetzen, die von totalen Verboten in 6 über strikte Einschränkungen in 17 bis hin zur Freigabe in 27 Bundesstaaten reichen.
Flickenteppich an Gesetzen
Diese Form der Hilfsbereitschaft geht einigen der ausschließlich republikanisch regierten Staaten mit strikten Abtreibungsgesetzen gegen den Strich. Sie versuchen nun das, was sie als "Abtreibungstourismus" bezeichnen, mit allen Mitteln zu unterbinden. Die Federführung hat die Thomas-Morus-Gesellschaft übernommen, die an einer Gesetzes-Blaupause arbeitet. "Nur weil man eine Staatsgrenze überschreitet, heißt das nicht, dass der Heimatstaat nicht zuständig ist", meint Peter Breen, Vizepräsident der Organisation. Bei zwei nationalen Anti-Abtreibungskonferenzen fand das Thema Ende Juni großes Interesse republikanischer Gesetzgeber.
Jenseits der Frage der juristischen Durchsetzbarkeit geht es den Abtreibungsgegnern um eine abschreckende Wirkung. Ein über die Grenzen des Bundesstaates hinaus verfolgtes Abtreibungsverbot streben neben Texas auch Arkansas und South Dakota an. Missouri setzte eine Stunde nach dem Supreme-Court-Urteil ein Gesetz in Kraft, das seinen Bürgerinnen Abtreibungen in einem anderen Bundesstaat verbietet.
Von Demokraten geführte "blaue" Bundesstaaten beschreiten den entgegengesetzten Weg. Connecticut verabschiedete schon im April ein Gesetz, das Frauen schützt, wenn sie wegen einer Abtreibung ihren Bundesstaat verlassen müssen. Kalifornien erließ Ende Juni ein ähnliches Gesetz.
Hilfe über Staatsgrenzen hinweg
US-Justizminister Merrick Garland stellte klar, dass die Entscheidung des obersten Gerichts nichts an dem Recht von Frauen ändere, in anderen Staaten einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Freizügigkeit sei in der Verfassung garantiert. "Sie müssen in anderen Staaten Hilfe suchen dürfen, wo es legal ist."
In den Reihen der Pro-Life-Bewegung gibt es auch Bedenken, mit staatsübergreifenden Ansprüchen über das Ziel hinauszuschießen. Marjorie Dannenfelser, Präsidentin der einflussreichen "Susan B. Anthony List", hält wenig davon, Frauen strafrechtlich zu verfolgen. "Ich werde - weil ich an Freizügigkeit glaube - niemals dafür sein, Frauen aufzuspüren und herauszufinden, wohin sie gehen", sagte sie in einem Interview.
Auch Catherine Glenn Foster, Präsidentin von "Americans United for Life", hält wenig von solchen Gesetzesinitiativen. "Ich glaube nicht, dass man das verhindern kann", erklärte sie mit Blick darauf, dass Menschen schon immer medizinische Behandlungen über Staatsgrenzen hinweg in Anspruch genommen haben.
Unternehmen bieten Frauen Unterstützung an
Demokratische Bundesstaaten wollen Fundamentalismus in einigen republikanischen Staaten nun als Standortvorteil nutzen. So appellierte Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom an die Wirtschaftschefs, sie sollten sich genau überlegen, ob sie sich dort ansiedeln wollen, wo Frauen der Zugang "zum gesamten Spektrum reproduktiver Gesundheitsversorgung" verwehrt werde. Schon zuvor hatten unter anderen Starbucks, Tesla, AirBnB und Netflix angekündigt, die Kosten für ihre Mitarbeiterinnen zu übernehmen, wenn diese für eine Abtreibung reisen müssten.
Tatsächlich konfrontiert die neue Post-"Roe"-Realität beide Seiten mit noch ungeklärten Rechtsfragen. Mehrere Bezirksstaatsanwälte in Großstädten haben angekündigt, grenzüberschreitende Abtreibungsfälle nicht zu verfolgen. Die drei Supreme-Court-Richter, die beim Sturz von "Roe" die Minderheitsposition vertraten, gaben zu bedenken, dass es nun zu einem "zwischenstaatlichen Abtreibungskrieg" kommen könne. Alarm schlägt auch der Rechtswissenschaftler von der University of Pittsburgh, Greer Donley. Er sei nicht sicher, ob die Bundesstaaten in der modernen US-Geschichte jemals so krass gegensätzliche Interessen vertreten haben.
Auf ähnlich dünnem juristischem Eis befinden sich Aktivisten, die sich für ein "Recht auf Abtreibung" starkmachen. Nur wenige haben wie Stephany Bolivar offen und unzweideutig Hilfe angeboten. Die meisten bedienen sich verschlüsselter Botschaften. Aus gutem Grund: Rechtsexperten warnen schon jetzt vor möglichen strafrechtlichen Konsequenzen.