Die Zählmarke, die die spanische Zeitung "El Pais" online gestellt hat, stimmt bedenklich. Landet man auf der Seite "Missbrauch in der spanischen Kirche", sieht man die Zahlen voran rattern, bis sie bei bislang 840 ans Licht gekommenen Fällen und 1.594 Opfern stehen bleiben. Dies jedoch dürfte nur die berühmte Spitze des Eisbergs und die Dunkelziffer immens hoch sein.
Allein im laufenden Jahr sind laut einer Aufstellung von "El Pais" 239 Fälle bekannt geworden, im Vorjahr waren es 395. In den Jahrzehnten zuvor lag die jährliche Zahl oftmals bei Null, weil die Opfer aus Angst und Scham schwiegen.
Recherchen zu Missbrauchsfällen durch Kirchenvertreter
Politik und katholische Kirche hatten ohnehin kein Interesse, Staub bei dem Thema aufzuwirbeln. Erst 2018 startete "El Pais" investigative Recherchen zu Missbrauchsfällen durch Kirchenvertreter, was - nicht zuletzt befeuert durch Initiativen in anderen Ländern - eine Lawine ins Rollen brachte. Kurz darauf entstand in Spanien mit "Geraubte Kindheit" ("Infancia Robada") eine erste Vereinigung von Missbrauchsopfern, mittlerweile sind weitere Zusammenschlüsse entstanden.
"Der Pfarrer sagte mir, dass das zwischen uns eine Liebesbeziehung war, eine ganz besondere Beziehung, die sonst niemand verstehen würde", erinnert sich Inmaculada Garcia, die Ende der Achtziger Jahre vom Geistlichen ihres Heimatdorfes missbraucht wurde. "Ich hatte schon das Gefühl, dass das Sünde war", so Garcia, die heute als Vorsitzende der Vereinigung gegen sexuellen Kindesmissbrauch in der Region Valencia tätig ist und sich mittlerweile als "nicht-gläubig" bezeichnet.
Aufarbeitung in der Kritik
Damals erzählte die junge Inmaculada die Geschehnisse ihrer Mutter, die daraufhin die Beziehung zur Pfarrei abbrach. "Aber es geschah nichts weiter", sagt Garcia heute. Die Gesellschaft in jener Zeit sei "ganz anders" gewesen. Zur Verantwortung für seine Taten wurde der Pfarrer nicht gezogen. Für die Gegenwart und Zukunft wünscht sich Garcia eine "reale Verpflichtung seitens der Kirche", dass das kirchliche Umfeld sicher ist.
Der spanischen Amtskirche, so die allgemeine Kritik, fehlt es an Entschlossenheit, die Fälle im Detail aufzuarbeiten - allerdings kann sie die Problematik auch nicht mehr ignorieren wie in der Vergangenheit. Ein Zeichen war im März ein Zusammentreffen von 15 Missbrauchsbetroffenen und dem Vorsitzenden der Spanischen Bischofskonferenz, Kardinal Juan Jose Omella. Im Juni übergab die Bischofskonferenz einen Bericht über "Fälle von Missbrauch an Minderjährigen" an den Generalstaatsanwalt.
Eigene Aufarbeitung bei den Jesuiten
Die Jesuiten betreiben eine eigene Aufarbeitung. In ihrem letzten Bericht zum Zeitraum 1927 bis 2021 machten sie Fälle aus Schulen und anderen religiösen Einrichtungen publik. Betroffen von sexuellen Übergriffen waren 84 Minderjährige und 41 Erwachsene, involviert insgesamt 103 Ordensleute.
Für Opfer sexuellen Missbrauchs gibt es in Spanien seit Anfang Juli eine kostenlose Hotline, die Betroffene dazu ermutigen soll, sich von der Last des Erlittenen, über das sie oft jahrzehntelang schwiegen, zu befreien und nach Lösungen zu suchen. Telefonischer Ansprechpartner, alternativ auch per E-Mail, ist Angel Gabilondo, der "Defensor del Pueblo", also der Ombudsmann. Hinter ihm steht eine 20-köpfige Beratungskommission; die meisten Mitglieder haben Erfahrung in der Opferberatung und in juristischen Fragen.
Bericht soll folgen
Die Kommission solle, so Gabilondo bei einer Rede im Kongress, "Fakten und Verantwortlichkeiten" zusammentragen. Ebenso stellte er finanzielle Entschädigungen für die Opfer in Aussicht und sprach von vorbeugenden Maßnahmen, auf dass "dies nie mehr geschehen" möge. Am Ende der Hotline-Initiative soll ein umfangreicher Bericht für die politischen und juristischen Entscheidungsträger stehen. Ein Zeitlimit gibt es dafür nicht. Man braucht kein Prophet zu sein, um zu prognostizieren, dass die Zählmarken in Zukunft weiter und weiter steigen werden.