Im Heiligen Land entsteht ein handgeschriebenes Evangeliar

Mit Pinsel, Bleistift und Feder

Von Hand, wie in alten Zeiten, entsteht im Kloster Deir Rafat ein kunstvolles Evangeliar. Gedacht als Geschenk des Patriarchen an sein Bistum Jerusalem, bringt es schon jetzt seinen Erschafferinnen dem Wort Gottes näher.

Autor/in:
Von Andrea Krogmann
Schwester Maria arbeitet an den Ikonen eines handgeschriebenen Evangeliars / © Andrea Krogmann (KNA)
Schwester Maria arbeitet an den Ikonen eines handgeschriebenen Evangeliars / © Andrea Krogmann ( KNA )

Auf einem Hügel zwischen Jerusalem und Tel Aviv liegt Deir Rafat, das "Kloster über den Knochen". 1927 vom damaligen Lateinischen Patriarchen Luigi Barlassina als nationale Wallfahrtsstätte gegründet, ist "Unsere Liebe Frau von Palästina" seit 2009 Heimat von zwölf Ordensfrauen der Monastischen Familie von Bethlehem, die dort ein Leben in Stille und Anbetung führen. Hier entsteht derzeit ein besonderes Geschenk: ein Evangeliar, auf Arabisch handgeschrieben, kunstvoll illustriert - ein Geschenk des Lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Erzbischof Pierbattista Pizzaballa, an sein Bistum.

Erzbischof Pierbattista Pizzaballa (m.), Lateinischer Patriarch von Jerusalem, bei der Abendmahlsmesse in der Grabeskirche / © Andrea Krogmann (KNA)
Erzbischof Pierbattista Pizzaballa (m.), Lateinischer Patriarch von Jerusalem, bei der Abendmahlsmesse in der Grabeskirche / © Andrea Krogmann ( KNA )

Ein Trampelpfad führt durch den Klostergarten. An dessen südwestlichen Zipfel: ein schmaler, länglicher Containerbau. In Erdtönen gehalten und in den Hang gebaut, gibt er einen unverbauten Blick über die hügelige Landschaft der Schefela frei. Von Pilgern und Touristen, die die Wallfahrtskirche neben dem Kloster besuchen oder im Klosterladen das Kunsthandwerk der Ordensleute bewundern, bekommt man in der Einsiedelei nichts mit. Vier Klosterzellen bieten besondere Stille und Kontemplation.

Wallfahrtsort Deir Rafat / © Andrea Krogmann (KNA)
Wallfahrtsort Deir Rafat / © Andrea Krogmann ( KNA )

Still ist auch das Innere der Zellen. Weiße Wände, unbehandeltes Nadelholz, spartanisch möbliert. "Meine Arbeit beginnt auf den Knien, im Gebet", sagt Schwester Anelia. Sie deutet auf die Luke über ihrem Schreibtisch. Gebrochen durch ein Holzgitter gibt sie den Blick frei auf das Herzstück der Zelle: eine kleine Kapelle mit dem Allerheiligsten, Ikonen, davor eine Gebetsbank. "Oft rufe ich den Heiligen Geist an."

Dann erst setzt sich die Französin an den Schreibtisch. Wieder und wieder taucht die Metallfeder in der hölzernen Halterung in die schwarze Tinte. "Solange ich mit dem Bleistift vorschreibe, konzentriere ich mich auf die Rechtschreibung und die Grammatik, den Zeichenabstand, die Akzente. Wenn ich dann zur Tinte übergehe, werde ich freier für das Gebet", sagt sie.

Ein verrücktes Abenteuer

"Im Oktober 2019 hat uns der damalige Sekretär des Patriarchen, Firas Abedrabbo, besucht, um das Hochfest 'Maria, Königin von Palästina' vorzubereiten. Er sah unser handgeschriebenes Evangeliar in der Kapelle. Kurze Zeit später wurden wir nach Jerusalem ins Patriarchat eingeladen und gefragt, ob wir bereit wären, uns auf ein verrücktes Abenteuer einzulassen", erinnert sich die Oberin der Gemeinschaft, Schwester Liesse-Myriam, an die Anfänge.

Das Projekt: ein handgeschriebenes Evangeliar für Jerusalem, das gleichermaßen aus der orientalischen wie der lateinischen Tradition gespeist ist. Die Gemeinschaft nahm das Anliegen in ihr Gebet - und sagte zu. "Das Wort lebendig erhalten, das genau trifft das Herz unseres monastischen Lebens", sagt Schwester Liesse-Myriam.

Schwester Maria  arbeitet an den Ikonen eines handgeschriebenen Evangeliars / © Andrea Krogmann (KNA)
Schwester Maria arbeitet an den Ikonen eines handgeschriebenen Evangeliars / © Andrea Krogmann ( KNA )

Schwester Anelia ist eine von zwei Schwestern, die für die auf mehrere Jahre angelegte Aufgabe freigestellt wurde. Ihre Aufgabe als Kalligrafin ist das Kopieren des Textes, während die spanische Schwester Maria als Ikonografin für die bildliche Gestaltung des Evangeliars zuständig ist.

Dem Auftrag folgten Recherchen und erste Versuche. Das richtige Papier musste gefunden werden, haltbare Tinte und geeignete Farben - alles mit Blick auf die doppelte Verwendung, die das kostbare Evangeliar einst finden soll. Das Original soll in der Co-Kathedrale des Patriarchats liturgisch zum Einsatz kommen; alle Pfarreien des Patriarchats sollen einen Faksimile-Druck erhalten, erklären die Ordensfrauen.

Lateinisches Patriarchat von Jerusalem

Das Lateinische Patriarchat von Jerusalem betreut die rund 60.000 bis 70.000 römisch-katholischen Christen im Heiligen Land. Seine Jurisdiktion erstreckt sich über das Staatsgebiet von Israel, Jordanien, Zypern und die Palästinensischen Gebiete. Die Ursprünge des Patriarchats liegen in der Zeit der Kreuzfahrer, die sich als "Lateiner" bezeichneten. Es erlosch jedoch mit dem Fall Akkos 1291. Im Jahr 1847 belebte Papst Pius IX. das Patriarchat neu.

Blick auf Jerusalem / © Kyrylo Glivin (shutterstock)

Auch das Zusammenspiel zwischen Text und Bild musste entwickelt, eine eigene Bildsprache für die Buchmalereien gefunden werden. Denn während der biblische Text ohne Veränderung kopiert wird, sollen die Buchmalereien der Komplexität der Mutterkirche Jerusalem gerecht werden. Im Psalter der Kreuzfahrerkönigin Melisande aus dem Jerusalem des 12. Jahrhunderts fand Maria eine Inspirationsquelle. Mit seinen orthodoxen, armenischen und europäischen Einflüssen kam er dem nahe, was der Patriarch und seine Ikonografin für das Evangeliar wünschten: "inspiriert von den verschiedensten Traditionen und trotzdem einzigartig".

Vier bis acht Stunden täglich arbeiten die Schwestern an dem Evangeliar, Anelia in der Einsiedelei auf dem Hügel von Deir Rafat, Maria in Jerusalem. Bei der Gestaltung der Seiten setzen die Schwestern dabei auf moderne Technik. Am Computer simuliert Schwester Maria den Textverlauf, um die Bilder an die richtige Stelle zu platzieren, dann wandert das Blatt zwischen Malerin und Schreiberin hin und her, bis am Ende zum Schutz der fertigen Seite ein Fixiermittel aufgetragen wird.

"Es ist ein ambitioniertes Projekt. Als wir zugesagt haben, wussten wir nicht, was auf uns zukommt", sagt Schwester Maria und lacht. Macht Anelia einen Fehler oder verrutscht Maria ein Pinselstrich, bleibt ihnen kein anderes Mittel, als die Seite von vorne anzufangen.

"Der Pinsel ist mein Gebet"

Doch Reue ist bei keiner von beiden zu spüren. "Ich bin die erste, die von diesem Projekt profitiert", sagt Schwester Anelia. "Ich werde am Ende jeden Satz der Evangelien zweimal geschrieben haben, einmal mit dem Bleistift, einmal mit der Feder. Es dient meiner eigenen Evangelisierung." Jeder Pinselstrich, sagt auch Schwester Maria, korrespondiere im Gebet: "Der Pinsel ist mein Gebet."

Im Gebet tragen die Ordensfrauen auch jene, die einst Nutznießer ihrer Arbeit sein werden. "Ich hoffe, das Evangeliar wird den Menschen helfen zu beten, und oft denke ich beim Schreiben, dieser oder jener Satz wird vielleicht einen Zuhörer besonders berühren", so Schwester Anelia.

Dass die besondere Arbeit mit den Evangelien bei ihnen selbst deutliche Spuren hinterlässt, steht für die Gemeinschaft von Deir Rafat außer Frage. Das Kopieren ist stärker als das reine Lesen des Texts, formuliert es Schwester Anelia: "Es geht in die Retina, in die Hand, ins Herz". Schwester Liesse-Myriam ergänzt: "Das Evangeliar, das von der ganzen Gemeinschaft mitgetragen wird, macht uns zu lebendigen Steinen des Bistums. Wir sind der verborgene Teil, wir kopieren, damit die Diözese proklamieren kann."

Quelle:
KNA