DOMRADIO.DE: Wie ist denn Ihr Eindruck, wenn Sie die Situation dieses Jahr mit den letzten beiden Pandemie-Jahren vergleichen. Ist das dann in diesem Jahr schon eher so wie früher?
Schwester Michaela Wachendorfer (Katholische Kirchengemeinde Juist): Die Vorschriften sind natürlich weniger geworden. Aber letztes Jahr war es hier deutlich voller. Wir wurden eher überrannt, weil viele gar nicht mehr diese Fernreisen machen durften. Aber in der Kirche fühlt es sich eigentlich so ein bisschen mehr wie immer an. Und doch ist es nicht wie immer. Es sind auch deutliche Veränderungen zu spüren.
DOMRADIO.DE: Sie sind zuständig für die Touristen-Seelsorge auf der Insel. Mit welchen Angeboten begleiten Sie die Urlauber?
Wachendorfer: Um 7.30 Uhr morgens ist hier immer Schweige-Meditation. Man kann also gerne vor dem Brötchenholen zur Schweige-Meditation kommen. Das wird rege genutzt. Ich habe gerade noch einen älteren Herrn getroffen. Er sagt, er sei jetzt wegen Corona ein paar Jahre nicht da gewesen. Er hatte gehofft, dass es dieses Angebot noch gibt, weil es seinen Tag verändert.
Wir haben die Kirche von morgens 7.00 bis 21.00 Uhr sowieso offen. Die wird in dem Sinn rege genutzt, dass Leute bei der Muttergottes Kerzen aufstellen oder kleine Zettelchen in unsere neue Klagemauer legen. Und es gibt dann auch das Angebot von regelmäßigen Gottesdiensten inklusive Familiengottesdiensten. Wir haben am Wochenende immer drei Messen. Die werden auch gut besucht. Und dann natürlich Vorträge und Konzerte und solche Dinge, die laufen eigentlich immer.
DOMRADIO.DE: Sie haben gerade schon gesagt, Sie haben auch ein neues Angebot, nämlich die Klagemauer. Was steckt dahinter?
Wachendorfer: Das habe ich in der Fastenzeit angefangen, weil ich dachte, irgendwie gibt es so viel im Moment, was die Leute bedrückt. Sei das Krankheit, Corona, der Ukraine-Krieg, der Zustand unserer Kirche. Es gibt viel zu klagen.
Wir hatten durch eine Baumaßnahme ein paar Steine übrig und die habe ich hinten aufgeschichtet. Das ist etwas, was unerwartet genutzt wird: Die Mauer ist mit Zetteln übersät, die in die Ritzen gesteckt werden, wo Ängste, Sorgen, Wut, Ärger - eben Klagen - einfach abgegeben und Gott sozusagen vor die Füße geworfen werden können.
Ich bin erstaunt, wie das genutzt wird, wie viele Leute da reinschreiben, auch viele Kinder. Irgendwie ist man dann so eine stille Gemeinschaft. Ich finde es ganz schön, zu merken: Ja, es gibt viele Leute, die im Moment Sorgen haben.
Irgendwo muss man einen Ort finden, wo man die auch mal lassen kann. Das merke ich auch in Gesprächen, die es immer wieder darüber gibt.
DOMRADIO.DE: Sie sagen, dass Menschen auch ihre Sorgen loslassen, die mit der Situation in der Kirche zu tun haben. Inwiefern bringen die Menschen denn auch Themen mit, die ihren Glauben betreffen?
Wachendorfer: Sonntags oder wann auch immer, stehe ich häufig am Eingang. Dann gibt es viele, die sagen: Wir sind bedrückt, wir machen uns Sorgen, wir haben Ängste, was mit der Kirche wird. Warum tut sich denn da nichts? Oder wir trauen uns schon gar nicht mehr zu sagen, dass wir aus dem Erzbistum Köln kommen und solche Sachen. Da merkt man das sehr. Die Leute brauchen einen Punkt oder jemanden, der ihnen in der Sorge und Traurigkeit einfach zuhört, dass die Dinge sich verändern und dass sie nicht mehr so wie früher sind.
Ich glaube, das ist eine Aufgabe, die irgendwie wahrgenommen werden muss und dass man darüber auch trauern darf. Es ist nicht mehr so wie früher und gleichzeitig ist es gut, zu sagen, davon geht aber vielleicht auch nicht der Glaube völlig verloren. Das, glaube ich, ist das, was ganz wichtig ist. Im Grunde habe ich das Gefühl, als Seelsorgerin geht man im Moment eher ohne Geländer, weil nicht mehr alles so ist wie immer.
Das Interview führte Julia Reck.