Ukrainischer Weihbischof berichtet über den Kriegsalltag

"Wenn wir nicht leben, sind wir verloren"

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine dauert mittlerweile sechs Monate. Die Menschen seien angespannt, aber versuchten zu leben, berichtet der ukrainische Weihbischof Wolodymyr Hruza aus Lwiw/Lemberg.

Feiern zum ukrainischen Nationalfeiertag / © Ukrinform (dpa)
Feiern zum ukrainischen Nationalfeiertag / © Ukrinform ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie wohnen in Lwiw/Lemberg ganz im Westen des Landes, also nicht direkt im Kampfgebiet. Wie ist aktuell die Lage? Gerade am Nationalfeiertag an diesem Mittwoch waren ja verstärkte Kampfhandlungen erwartet worden.

Weihbischof Wolodymyr Hruza (privat)
Weihbischof Wolodymyr Hruza / ( privat )

Wolodymyr Hruza (Weihbischof von Lwiw/Lemberg): Es gab viele Warnungen. Gerade vor ein paar Minuten ging wieder die Sirene los. Aber bis jetzt ist es in Lemberg relativ ruhig. Traditionsgemäß waren wir gerade auf dem Friedhof. Das ist auch eine Eigenschaft unseres Feierns: Wir gedenken unserer Gefallenen. Es kamen auch Verwandte der gefallenen Soldaten und wir haben zusammen gebetet. Dann waren wir in der Garnisonskirche, wo wir auch alle unsere Soldaten verabschieden, wenn sie gefallen sind.

Wolodymyr Hruza, Weihbischof von Lwiw/Lemberg

"Wenn Du zurück blickst, und weißt, es gibt keinen Weg dorthin, hast Du nur die Möglichkeit, nach vorne zu gehen."

Die Stimmung in der Stadt ist schon ein bisschen angespannt, aber die Leute versuchen, diesen Tag zu feiern. Denn es ist nicht nur irgendeine Deklaration, ein Dokument, das Unabhängigkeit bedeutet. Sondern es ist wichtig für unser Leben, mit welchem Inhalt wir diesen Tag füllen. Gerade heute steht noch eine traurige Sache auf dem Plan: Heute Nachmittag beerdigen wir einen Universitätsdozenten, der auch an der Front gefallen ist und zwei kleine Kinder hatte. Das ist dramatisch. Andererseits bilden diese Beerdigungen auch die Gefühle des Lebens ab. Die Leute versuchen zu leben, denn das Leben lebt.

Ukrainer entfalten auf Brüsseler Grand-Place riesige Nationalflagge

In Brüssel ist zur Feier des Unabhängigkeitstages der Ukraine eine riesige blau-gelbe Nationalflagge des Landes entfaltet worden. An der Zeremonie auf dem Grand-Place in der historischen Innenstadt nahmen am Mittwochmittag EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Hunderte andere Unterstützer und Bürger der Ukraine teil. Sie war unter anderem von der Vertretung der Ukraine bei der Europäischen Union und der Vereinigung von Ukrainern in Belgien organisiert worden.

Feiern zum ukrainischen Nationalfeiertag in Brüssel / © Virginia Mayo (dpa)
Feiern zum ukrainischen Nationalfeiertag in Brüssel / © Virginia Mayo ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wenn wir nochmal ein halbes Jahr zurück blicken - wie hat sich Ihr Leben seit dem Kriegsbeginn verändert?

Hruza: Erstens kann man nichts planen. Die Pandemie hatte uns schon ein bisschen gelehrt, nicht weit zu planen. Aber jetzt können wir gar keine großen Pläne machen. Wir stehen auf und sind dankbar, dass die Nacht vorbei ist. Abends gehen wir ein bisschen angespannt ins Bett.

Zweitens merkt man, dass die Leute erschöpft sind. Einerseits, was materielle Ressourcen angeht, andererseits aber auch emotional. Die Leute sind nicht erholt, sondern angespannt. Aber sie merken: Es gibt keinen Weg zurück. Das ist ganz klar. Wenn Du zurück blickst, und weißt, es gibt keinen Weg dorthin, hast Du nur die Möglichkeit, nach vorne zu gehen. Und das motiviert die Menschen, glaube ich.

DOMRADIO.DE: Hat sich bei Ihnen in der Stadt denn eine Art "Alltag" wieder eingespielt?

Wolodymyr Hruza, Weihbischof von Lwiw/Lemberg

"Die Menschen brauchen es, zusammenzukommen."

Hruza: Wir versuchen zu leben. Denn wenn wir nicht leben oder unterdrückt sind, sind wir schon verloren. Der Fußball startet langsam wieder bei uns. Wir hatten wieder Konzerte in unserem Kathedralen-Garten. Man könnte fragen, wie kann man das im Krieg machen. Aber die Leute brauchen das. Die Menschen brauchen es, zusammenzukommen.

Die Pandemie hat uns ein bisschen isoliert. Und der Krieg hat dazu geführt, dass die Menschen einen großen Bedarf haben, miteinander zu sein. Die Menschen kommen sehr gerne in die Kirche zu Gottesdiensten. Sie sagen, sie fühlen sich sehr wohl mit Anderen. Und interessanterweise kommen auch immer Menschen in die Kirche, wenn die Alarmsirene losgeht – um Schutz zu suchen und miteinander zu sein.

DOMRADIO.DE: Der normale Gottesdienst kann stattfinden, es finden auch wieder Taufen und Hochzeiten statt. Also, das hat sich eingespielt.

Hruza: Ich würde sagen, das pastorale Leben entwickelt sich. Interessanterweise haben wir relativ viele Trauungen. Viele Menschen hatten das eigentlich für irgendwann geplant, aber jetzt sagen sie, wir wollen das jetzt, im bescheidenen Kreis. Und was ich noch zum Alltag im Krieg sagen kann: Wir haben gelernt, sehr einfach zu leben. Der Mensch merkt, er braucht nicht so viel im Leben. Er hätte viele Wünsche. Aber ob er das alles braucht...? Du kannst mit einfachen Dingen umgehen und Dich freuen, dass Du ein Haus hast, dass Du einen Ort hast zu schlafen und so weiter. Also, irgendwie ist die Anspannung spürbar, aber in Lemberg selbst geht das Leben weiter. Auch die Wirtschaft versucht zu funktionieren. Das ist auch eine sehr wichtige Ebene des gesellschaftlichen Lebens.

Das Interview führte Tobias Fricke.

Quelle:
DR