Mahnungen zum Welttag der Suizidprävention werden lauter

"Bedeutendes Problem"

Alle 57 Minuten nimmt sich ein Mensch in Deutschland das Leben - statistisch gesehen. Suizid bleibt damit eine häufige Todesursache. Expertinnen und Experten sehen Handlungsbedarf in Politik und Gesellschaft.

Autor/in:
Paula Konersmann
Verzweifelter Jugendlicher / © Celiafoto (shutterstock)
Verzweifelter Jugendlicher / © Celiafoto ( shutterstock )

Die alarmierende Chatnachricht. Ein ständig bleiches, bedrücktes Gesicht. Oder der Rückzug von Hobbys und Aktivitäten: Das Nationale Suizidpräventionsprogramm (NaSPro) rät dazu, solche Warnsignale ernstzunehmen. "Reden kostet nichts. Schweigen schon", heißt es in dessen aktueller Kampagne, derzufolge acht von zehn Betroffenen einen Suizid ankündigen.

Wer Sorgen anspricht, kann Unterstützung und Lösungen finden. Wenn Menschen ihre Probleme jedoch nicht nach außen tragen, kann dies zu Suizidgedanken führen, wie der Neurologe Milan Zimmermann in einem am Montag veröffentlichten Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) warnt.

Aufruf zum Handeln

Am Samstag ist Welttag der Suizidprävention - und Expertinnen und Experten rufen zum Handeln auf. Einerseits die Einzelnen, die sich nicht scheuen sollten, Sorge um Angehörige, einen Freund oder eine Kollegin anzusprechen. Dazu rät Birgit Wagner, Psychologieprofessorin und Leitungsmitglied des NaSPro. Die ernsthafte Frage, wie es jemandem gehe, könne wichtig sein, vielleicht auch eine vorsichtige Beobachtung wie: "Ich habe den Eindruck, dass du dich verändert hast."

Tabletten liegen auf einem Tisch / © BNMK 0819 (shutterstock)
Tabletten liegen auf einem Tisch / © BNMK 0819 ( shutterstock )

Andererseits gibt es auch auf politischer Seite Handlungsbedarf, betont Sozialforscher Reinhard Lindner. Um niedrigschwellige Beratungs- und Hilfsangeboten nachhaltig zu sichern, brauche es eine jährliche Förderung von 15 Millionen Euro, so der NaSPro-Leiter.

Jedes Jahr sterben in Deutschland mehr als 9.000 Menschen durch Suizid. Das sind mehr Todesfälle als durch Verkehrsunfälle, Mord und illegale Drogen zusammen, wie Wagner ausführt. Auf jede vollendete Selbsttötung kämen zudem etwa zehn bis 20 Versuche. Es handle sich also um ein "bedeutendes gesellschaftliches und gesundheitspolitisches Problem".

Bei den aktuellen Debatten um assistierten Suizid müssten auch die Angehörigen in den Blick genommen werden, mahnt Wagner. Studien zeigten, dass sie häufiger unter Belastungssymptomen litten als andere Hinterbliebene.

Brisanz durch Verfassungsgerichtsurteil

Zusätzliche Brisanz erhält das Thema durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das im Februar 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung gekippt hatte. Die Selbsttötung gehöre zum Recht auf Selbstbestimmung, so die Karlsruher Richter. Das schließe auch die Hilfe Dritter ein. Ein neues Gesetz, das ein von den Richtern vorgeschlagenes Schutz- und Beratungskonzept ermöglicht, steht noch aus.

Symbolbild Telefonieren / © Andrey_Popov (shutterstock)
Symbolbild Telefonieren / © Andrey_Popov ( shutterstock )

Die aktuell vorliegenden Gesetzentwürfe hätten indes "mit Suizidprävention wenig zu tun", kritisiert Lindner. Beratungsangebote für suizidgefährdete Menschen und ihre Angehörigen dürften nicht schwieriger erreichbar sein als der Zugang zum assistierten Suizid.

Die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), Claudia Bausewein, betont, dass schon die Information über Hilfsangebote vermeiden könne, dass etwa Menschen mit einer schweren Erkrankung überhaupt erst Suizidgedanken entwickelten.

Ausbau von Hospizarbeit

Bereits im Juni hatten das NaSPro und über 40 weitere Institutionen und Fachgesellschaften ein Gesetz zur Suizidprävention sowie einen weiteren Ausbau von Hospizarbeit und Palliativversorgung gefordert.

Schwester in einem Hospiz / © Katharina Ebel (KNA)
Schwester in einem Hospiz / © Katharina Ebel ( KNA )

Nach Worten von Medizinerin und NaSPro-Leiterin Barbara Schneider fehlt es weiterhin an einem Bewusstsein für die hohe Zahl von Suiziden - und auch dafür, dass Hilfe durchaus möglich sei.

Dass Kampagnen zur Bewusstseinsbildung große Wirkung zeigen können, belegt die Aufklärung über Aids eindrucksvoll. Das NaSPro feiert in diesem Jahr 20-jähriges Bestehen - und seine bisherige Arbeit hat dazu beitragen, dass die Zahl der Suizide um 17 Prozent gesunken ist.

Auch die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung habe sich in den vergangenen Jahrzehnten verbessert, betont Lindner. Dennoch bleibt viel zu tun.

Hilfe bei Suizidgedanken

Wenn Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Es gibt eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie – auch anonym – mit anderen Menschen über Ihre Gedanken sprechen können.

Das geht telefonisch, im Chat, per Mail oder persönlich.

Die Angebote der Telefonseelsorge haben sich immer weiter spezialisiert / © Markus Scholz (dpa)
Die Angebote der Telefonseelsorge haben sich immer weiter spezialisiert / © Markus Scholz ( dpa )
Quelle:
KNA