Gibt es Parallelen bei Missbrauch in Sport und Kirche?

Schwerwiegende Versäumnisse

Eine Studie hat erstmals eine große Zahl von Berichten zu sexuellem Kindesmissbrauch im Sport ausgewertet. Der ARD-Journalist Hajo Seppelt beobachtet das seit Langem und sieht viele Parallelen zur katholischen Kirche.

Ein Kind beim Schwimmtraining / © Suzanne Tucker (shutterstock)
Ein Kind beim Schwimmtraining / © Suzanne Tucker ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Sie sind seit vielen Jahren bekannt als Dopingexperte, haben unter anderem das Staatsdoping in Russland aufgedeckt. Kurz gesagt, Sie kennen sich gut aus mit erschütternden Themen im Sport. Wie lange wissen Sie um das Thema sexualisierte Gewalt im Sport?

ARD-Journalist Hajo Seppelt  / © Maurizio Gambarini (dpa)
ARD-Journalist Hajo Seppelt / © Maurizio Gambarini ( dpa )

Hajo Seppelt (ARD-Journalist): Ich weiß natürlich schon lange, dass das ein fürchterliches Thema ist. Da wir jetzt bei DOMRADIO.DE sind, ist natürlich die Assoziation sofort da, dass es hier auch womöglich um Dinge geht, die mit anderen Bereichen der Gesellschaft zu tun haben, in dem Fall mit der Kirche.

Ich beschäftige mich mit beiden Themen schon lange und intensiv. Wir haben Anfang des Jahres für die ARD den Film #outinchurch über 100 Katholikinnen und Katholiken gemacht, die in der katholischen Kirche beschäftigt sind und dort diskriminiert werden und worden sind.

Genauso war mein Thema schon seit Langem der Missbrauch von Menschen im Sport. Dazu zählt nicht nur sexueller Missbrauch, sondern, wie Sie es schon gesagt haben, eben auch Doping. Doping ist am Ende auch nichts anderes als Instrumentalisierung von Dritten für die Zwecke von Menschen, die ganz andere Interessen verfolgen.

DOMRADIO.DE: Im August ist Ihr ARD-Film "Missbraucht - Sexualisierte Gewalt im deutschen Schwimmsport" erschienen. Darin erzählt ein Betroffener von sexuellen Übergriffen im Schwimmsport. Zu welchen Erkenntnissen sind Sie durch diesen Film gekommen?

Seppelt: Im Prinzip hat sich das bestätigt, was ich eben schon andeutete. Es ist ein Dauerthema im Sport. Der Sport ist ein Bereich, in dem es unglaublich viele Kinder und Jugendliche gibt. Über die Hälfte aller Jugendlichen in Deutschland - das sind über sieben Millionen - sind Mitglied in einem deutschen Sportverein. Laut einer Studie der Deutschen Sporthochschule in Köln haben bis zu 20 Prozent sexualisierte Gewalt bis hin zu schlimmstem Missbrauch erlebt. Wir haben in diesem Film am Beispiel des Schwimmsports nachgezeichnet, was das über Jahrzehnte bedeuten kann.

Einmal haben wir den Wasserspringer Jan Hempel im Fokus gehabt, der von seinem Trainer, so sagt er, über 14 Jahre lang, noch zu DDR-Zeiten und auch später nach der Vereinigung in der Bundesrepublik, auf schlimmste Art und Weise missbraucht worden ist. Man muss es wirklich ganz hart sagen: Bis hin zur olympischen Wettkampf-Toilette in Barcelona 1992, da ist das unmittelbar vorm Wettkampf passiert. Aber wir haben halt nachzeichnen können, dass das eine Sache ist, die über Jahrzehnte von der Struktur her immer gleich geblieben ist. Natürlich in unterschiedlichen Nuancen und Schattierungen. Auch verbalisierte sexualisierte Gewalt ist ein Thema bis hin zur schwersten Vergewaltigung. All das passierte immer im Schwimmsport.

Unser Thema ist nicht nur, was mit den Athleten und Athletinnen passiert ist, sondern vor allem auch: Wie gehen Sportfunktionäre damit um? Wenn wir schon bei Verantwortungsträgern sind, dann muss ich ganz ehrlich sagen, dann ist das durchaus in Teilen ähnlich wie in der katholischen Kirche, nämlich dass es Menschen gibt, die mit Schutzbefohlenen unterwegs sind und sie in gewissen Mustern der Hierarchie und auch Abhängigkeitsverhältnissen dann missbrauchen.

Studie zu Kindesmissbrauch im Sport

Im Sport werden einer Studie zufolge nur die wenigsten Fälle von sexueller Gewalt und Missbrauch von Kindern und Jugendlichen aufgedeckt und aufgearbeitet. Stattdessen erlebten Betroffene häufig, dass ihre Erfahrungen negiert, bagatellisiert und verschleiert werden, wie aus einer Untersuchung im Auftrag der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hervorgeht, die am Dienstag in Berlin präsentiert wurde. Die Schilderungen seien erschütternd, sagte Bettina Rulofs, die leitende Autorin der Studie.

Jugendliche und Kinder beim Schwimmtraining / © Ann Kot (shutterstock)
Jugendliche und Kinder beim Schwimmtraining / © Ann Kot ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Da lassen sich also deutliche Parallelen erkennen. Auch in der Vergangenheit hat der organisierte Sport lange nicht die Fälle sexualisierter Gewalt aufgearbeitet. Stattdessen setzte man auf Prävention. 2020 entschuldigte sich die Vizepräsidentin des Deutschen Olympischen Sportbunds, Petra Tzschoppe, bei den Betroffenen. Wie schwerwiegend ist dieses Versäumnis noch heute?

Seppelt: Das Versäumnis ist ganz schwer, weil man jahrzehntelang geglaubt hat, man müsse den Sport vor Eingriffen Dritter schützen. Das ist so eine Art, wie soll ich sagen, Parallelgesellschaft. Da ist es halt so, dass Vereine und Verbände natürlich in erster Linie ein Interesse daran haben, wenn solche Dinge passieren, sie nicht zu skandalisieren oder, so würden sie es bezeichnen, nicht größer zu machen, als sie sind.

Das ist natürlich völliger Unsinn. Die Sachen sind sehr schlimm und deswegen muss man sie so was von deutlich beim Namen benennen.

Das ist halt im Sport wie in der Kirche, dass man die Institution vor weiterem Schaden schützen will, damit die Mitglieder nicht davonlaufen. Nach unserem Film überlegen Eltern, ob sie ihre Kinder überhaupt noch in Sportvereine schicken. Eine solche Dokumentation kann dazu beigetragen, möglicherweise Sportvereinen in Deutschland in einem gewissen Maße Schaden zuzufügen.

Aber das kann ja nicht unsere Aufgabe sein. Unsere Aufgabe ist es, darauf hinzuweisen, welchen Schaden Menschen bereits erlitten haben und wie man in Zukunft verhindern kann, dass es noch mal dazu kommt.

DOMRADIO.DE: Lassen Sie uns auf die nun veröffentlichte Studie der Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs schauen. Darin werden Geschichten von insgesamt 72 Opfern sexualisierter Gewalt im Sport geschildert. Wie gewinnbringend ist es in Ihren Augen, dass diese Studie heute erscheint?

Seppelt: Alles, was dazu beiträgt, das Thema öffentlich zu machen und dafür zu sensibilisieren, eine Debatte in der Gesellschaft anzustoßen und darüber nachzudenken, ob Präventionskonzepte das alleinige Heilmittel sind oder ob es nicht auch weiterer Korrekturen bedarf, ist sehr wichtig.

Beispielsweise indem man sagt, wir müssen Instanzen außerhalb des Sports viel stärker in den Fokus rücken und etablieren, weil das vom Sport, egal ob es sich um Doping oder sexuellen Kindesmissbrauch oder andere Formen sexualisierter Gewalt handelt, allein nicht kontrolliert oder gelöst werden kann. Da müssen andere ran, die den Leuten im Sport auf die Finger schauen.

Der Sport ist ein so großes Kulturgut in unserer Gesellschaft. Es sind viele Millionen Menschen, früher hat man gesagt, das ist die größte Bürgerbewegung des Landes, die eben gewissen Regularien unterliegen muss. Da hat man schon manchmal das Gefühl, dass sie glauben, sie können das alles selber regeln. Aber so einfach ist das nicht.

Das Interview führte Tobias Fricke.

Quelle:
DR