Bistum Limburg: Seit zehn Jahren ist Hildegard von Bingen auch offiziell, was sie schon lange vorher in den Augen vieler Menschen war: heilig. Außerdem aber ist sie zur Kirchenlehrerin ernannt worden. Was bedeutet das eigentlich?
Dr. Maura Zátonyi (Benediktinerin der Abtei St. Hildegard in Eibingen, Altphilologin und Theologin, hat an den theologischen Gutachten zu Hildegard von Bingen mitgearbeitet): Das ist eine große Auszeichnung durch die Kirche, eine Anerkennung ihrer herausragenden Lehre und ihres heiligmäßigen Lebens. Diesen Ehrentitel gibt es in der Kirchengeschichte noch gar nicht so lange. Papst Benedikt XIV. hat ihn im 18. Jahrhundert eingeführt und die rechtlichen Kriterien dafür festgelegt.
Zwei davon habe ich gerade genannt, dazu kommt als drittes die Erklärung eines Papstes oder eines Konzils. Unter den 37 bisherigen Kirchenlehrern ist sie die vierte Frau. Wenn es heißt, nur vier Frauen, sage ich: Immerhin sind es vier Frauen. Ich bewerte das positiv.
In der mittelalterlichen Gesellschaft war Bildung für Frauen keineswegs selbstverständlich. Zugang hatten sie dazu nur in den Klöstern, in der Kirche. Ihr ist es zu verdanken, dass es überhaupt gebildete Frauen in der Zeit gab.
Und es ist gut, dass die Kirche jetzt beginnt, Kirchenlehrerinnen zu entdecken. Die entscheidende Frage ist, welche Persönlichkeiten uns heute Vorbild im Glauben sein können. Dass Hildegard jetzt gerade zum 3. Jahrtausend offiziell heiliggesprochen und zur Kirchenlehrerin erhoben worden ist, bedeutet, dass für uns heute ihre Lehre aktualisiert wird.
Bistum Limburg: Inwiefern ist ihre Botschaft denn für uns aktuell?
Zátonyi: Gerade in unserer globalisierten Welt, wo wir spüren, alles hängt mit allem zusammen, kann uns Hildegard wirklich viele neue Perspektiven eröffnen. Sie schärft unseren Blick auf die Zusammenhänge, zwischen Kosmos und Mensch, zwischen Gott und Mensch.
Hildegards Visionen, in denen diese Zusammenhänge dargestellt sind, vermitteln eine theologische Botschaft, die keine kurzfristigen Lösungen enthält. Sie deutet die Welt mit dem langen Atem einer Benediktinerin von Gott her und in der Gegenwart Gottes lebend. Die Schöpfung ist für sie Ort der Gottesoffenbarung. In der Geschichte sieht sie das Heilshandeln Gottes an den Menschen.
Zentral für sie ist, dass der Mensch in der Mitte der Schöpfung steht. Nicht im Mittelpunkt! Zum Problem wird es, wenn sich der Mensch in den Mittelpunkt stellt. Aber in der Mitte zu stehen heißt, an dem von unserem Schöpfer bestimmten Platz zu stehen. Der Mensch bildet Gott in der Schöpfung ab. Wir haben die Verantwortung, uns ist die ganze Schöpfung anvertraut. Bei alldem ist sie keine exklusive Mystikerin, deren Lehre nur für ein paar Auserwählte gedacht ist.
Die Gottesbeziehung ist für jeden Menschen möglich, sagt sie. Das ist wunderbar ausgedrückt in ihrem Werk "Das Buch der Wegweisungen". Sie weist uns die Wege Gottes, aber sie zeigt zugleich, dass Gott seine Wege immer schon zu uns gegangen ist und geht. Die heilsgeschichtliche Begnadung gilt für jeden Menschen und das ist eine wirklich frohe Botschaft.
Bistum Limburg: Wenn landläufig von Hildegard von Bingen die Rede ist, dann meistens in Zusammenhang mit Kräutern, Naturheilkunde und Klostermedizin und nicht mit einer solchen Botschaft. Wie kommt das?
Zátonyi: Hildegard hat etwas an sich, das sich in verschiedenen Zeiten als Projektionsfläche anbietet. So galt sie im Mittelalter als Apokalyptikerin. Das entsprach dem damaligen Zeitgeist, aber es trifft nicht auf sie zu. Später, im 18./19. Jahrhundert, wurde versucht, sie als Mystikerin zu charakterisieren und sie in diese Ecke zu schieben. Hildegard hat aber keine Ekstase gehabt und alles mit wachem Bewusstsein wahrgenommen, das passt ebenfalls nicht.
Heute dagegen haben wir eine Sehnsucht danach, heil zu werden, gesund zu werden, und das soll möglichst schnell gehen. Und der kürzeste Weg ist, wenn ich einen Kräutertee trinke oder wenn ich Galgant in mein Essen streue. Hildegard verkündet schon, dass wir gesund und heil werden, aber das geht nicht so rasch und nicht nach Rezept.
Und dann gibt es noch die wissenschaftliche Ebene: Von da aus betrachtet müssen wir mit der Frage, ob sie wirklich Autorin der ihr zugeschriebenen Rezepte ist, nach dem heutigen Stand der Forschung vorsichtig umgehen. Ich wehre mich grundsätzlich gegen eine Vereinnahmung und Verengung aus dem Zeitgeist heraus. Wenn aber jemand kommt und sagt, dass er durch Hildegard-Medizin geheilt wurde, dann erzähle ich nichts von der Forschung. Dann hat das Leben hier recht.
Bistum Limburg: Was heißt denn Heilung bei Hildegard?
Zátonyi: Bei Hildegard steht Heilung immer im Zusammenhang mit Heiligung. Da geht es um den ganzen Menschen. Der Leib, die Seele und der Geist müssen heil werden. Wenn ich Hildegard-Seminare halte und nach den Erwartungen frage, muss ich nicht selten zunächst diejenigen enttäuschen, die eine Ernährungsberatung erhoffen.
Viele sind im Anschluss aber doch dankbar, wenn ihnen ein größerer Horizont eröffnet wird. Zum Glücklichsein braucht es eben mehr als einen Tee! Hildegard geht es um ganzheitliche Heiligung, um die Integrität der ganzen Person. Sie hat sehr aktuelle Antworten auf die Sehnsucht der Menschen. Dass sie so populär ist, darin sehe ich unsere große Chance für die Glaubensverkündigung.
Bistum Limburg: Aber wie zugänglich sind ihre Texte für heutige Leserinnen und Leser? Sie haben ja gerade selbst erst ein Hildegard-Lesebuch herausgegeben. Warum?
Maura Zátonyi: Ihre Werke sind nicht so ohne weiteres verständlich, uns trennen 900 Jahre und enorme kulturelle und gesellschaftliche Unterschiede. Aber es geht nicht nur uns so. Schon die Zeitgenossen Hildegards hatten Probleme, sie zu verstehen. Ihr Ausdrucksstil galt ihnen als dunkel, als obskur. Gar nicht zu reden davon, dass ihre Texte einen riesigen Umfang haben, ist es sehr schwierig, sie zu lesen.
Ein Mönch im Kloster Eberbach hat sich damals damit beholfen, dass er aus Hildegards Werk die entscheidenden Passagen herausgenommen hat, die zu einer aktuellen Frage der Menschen passten. Das war sozusagen das erste Lesebuch. Mit anderen Worten: Hildegard braucht immer schon die Übersetzung und Vermittlung. In der monastischen Tradition heißt meditierendes Lesen Ruminieren, also Wiederkäuen.
In meinem Lesebuch habe ich sozusagen schon ein bisschen vorgekäut. Hildegard ist manchmal ein harter Brocken, ich habe mir an ihr auch schon den einen oder anderen Zahn ausgebissen. Nicht jeder kann stundenlang lesen, deswegen stelle ich hier zur Verfügung, was ich so nach 20 Jahren für wichtig halte.
Bistum Limburg: Wie sind Sie denn überhaupt zu Hildegard gekommen?
Zátonyi: Ich habe Altphilologie studiert und eigentlich habe ich keine Ahnung vom Mittelalter gehabt, aber als ich nach Eibingen in die Abtei St. Hildegard kam, hieß es, Du kannst Latein, dann kannst Du Dich mit Hildegard beschäftigen.
2002 bin ich deswegen zu der damaligen großen Hildegardforscherin, Schwester Angela Carlevaris, geschickt worden. Sie hat mich nicht nur eingeführt in die Hildegardforschung, sondern auch darin, wie man Hildegard verstehen kann. Durch die genaue Lektüre, indem jedes Wort aus jeder Perspektive nicht nur betrachtet, sondern regelrecht verkostet wird.
Wenn man es sich lange auf der Zunge zergehen lässt, dann kommt man zum Sinn und zur Weisheit, die in diesen Visionen eingeschlossen ist. Eigentlich wollte ich mich nicht mit Hildegard beschäftigen, selbst Schwester Angela wollte es ursprünglich nicht. Wir beide haben Hildegard gerade durch unsere kritische, distanzierte Haltung kennen- und lieben gelernt.
Bistum Limburg: Was bedeutet sie Ihnen denn ganz persönlich, nach 20-jähriger Forschung?
Zátonyi: Sie ist für mich ein Stück zur Lebensmeisterin geworden. Heute bin ich manchmal selbst überrascht, dass ich in Situationen, in denen ich Rat suche, eine hildegardische Antwort habe. Sie spricht zum Beispiel vom Maß halten und wendet das nicht nur auf alle möglichen Tätigkeiten an, sondern auch auf das Gebet. Es könne ruhig etwas kürzer sein, dann erfreue es alle erst recht, hat sie gesagt. Da ist Humor drin. Und die Gelassenheit, das Leben mit seinen Grenzen nicht nur anzunehmen, sondern die Grenzen lieben zu lernen.
Sie ist so eine bodenständige Frau. Oft hat sie auf Bitten um Rat nicht mit den großen Idealen geantwortet, sondern mit Vorschlägen zur Ordnung des Alltags. Sie hatte natürlich diese großen Ideale. Die Augen zum Himmel erhoben, aber mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben, den Alltag bestehen und Gottes Gegenwart in den alltäglichen Dingen erfahren. Darum geht es. Was mich außerdem immer fasziniert, ist ihr Mut zur Schwachheit. Gerade dadurch, dass sie zu sich selbst steht, wird sie eine starke Frau.
Und genauso fasziniert mich, dass sie bis zum letzten Augenblick gekämpft hat. Angefangen bei der Klostergründung bis hin zu den Problemen rund um das Interdikt am Ende ihres Lebens. Sie hat nie aufgegeben, und sie ist dabei nicht bitter geworden. Sie hat sich die Anmut bewahrt und den Sinn für die Schönheit des Lebens und Glaubens. Sie hat Lieder komponiert und ist gewissermaßen mit einer Melodie durchs Leben gegangen.
Bistum Limburg: In den vergangenen zehn Jahren ist sehr viel passiert, es liegt die erste digitale Bibliographie vor, die St. Hildegard-Akademie Eibingen wurde gegründet, das Lesebuch ist gerade erschienen. Woran arbeiten Sie derzeit und wie bekommen Sie das alles unter einen Hut?
Zátonyi: Ich bin 24 Stunden am Tag mit Hildegard beschäftigt, manchmal auch 36. Sie wurde mir aufgetragen, aber aus der Pflicht habe ich eben Freude gemacht. So bin ich eigentlich immer im Urlaub. Oder immer in der Arbeit, wie man nimmt. Was derzeit all meine Zeit in Anspruch nimmt, ist die Leitung eines großen Projektes der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Seit fast drei Jahren arbeiten wir an einer Neubewertung der Briefsammlung im Riesencodex. Sie besteht aus Anfragen, die an sie gerichtet waren, und ihren Antworten. In den 282 Briefen, die Hälfte davon von ihr, wird ihre Lehre im Dialog entwickelt. Im Rahmen unserer Arbeit wird ein neues Werk Hildegards zum ersten Mal der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, , mit dem Titel das "Buch der Briefe". Über einen Teil der gesamten Sammlung, den Briefwechsel mit den Päpsten, werde ich bei der Jubiläumsfeier berichten.
Bistum Limburg: Wann und wo wird denn das Jubiläum gefeiert?
Zátonyi: Die St. Hildegard-Akademie Eibingen wird das Jubiläum am Jahrestag der Erhebung, am 7. Oktober, gemeinsam mit dem Freundeskreis des Deutschen Historischen Instituts in Rom mit einer festlichen Veranstaltung im Päpstlichen Institut S. Maria dell’Anima begehen.
In der eindrucksvollen Kirche der deutschsprachigen Gemeinde in Rom wird um 18 Uhr ein Gottesdienst zu Ehren der hl. Hildegard gefeiert mit Kardinal Walter Kasper als Hauptzelebrant. Ebenso öffentlich wie der Gottesdienst ist auch der Vortragsteil, bei dem ich über die Papstbriefe spreche und das Lesebuch vorstelle.
Es freut mich sehr, dass viele Mitglieder der Akademie vor Ort sind und dass mit unserer Äbtissin Dorothea Flandera und Subpriorin Sr. Christophora Janssen die Abtei Sankt Hildegard gut vertreten ist. Das wird eine schöne Feier!
Anmerkung der Redaktion: Dieses Interview wurde DOMRADIO.DE mit freundlicher Genehmigung des Bistums Limburg zur Verfügung gestellt.
Zusätzliche Information: Maura Zátonyi ist Benediktinerin der Abtei St. Hildegard in Eibingen. Geboren 1974 in Ungarn, studierte sie Klassische Philologie in Budapest, wurde in Mainz in Philosophie promoviert und absolvierte das Theologiestudium in Sankt Georgen/Frankfurt. 2011 bis 2012 hat sie an den theologischen Gutachten für das Verfahren der Heiligsprechung und der Erhebung Hildegards von Bingen zur Kirchenlehrerin, der sogenannten "Positio", mitgearbeitet. Sie ist die Vorsitzende der 2018 gegründeten "St. Hildegard-Akademie Eibingen e.V. Zentrum für Wissenschaft, Forschung und europäischen Spiritualität". Im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Forschungen hat sie mehrere Übersetzungen und Publikationen vorgelegt. Ihr jüngstes Werk ist Das große Hildegard von Bingen-Lesebuch "Worte wie von Feuerzungen", das im Herder-Verlag erschienen ist.