Dresdner Akademiedirektor warnt vor rechtsextremen Tendenzen

"Laute aber schockierende Minderheit"

Wie schon in der Flüchtlingskrise gehen Menschen auch im Herbst '22 zunehmend auf die Straße. Sind bei den neuen "Montagsdemos" nur verängstigte Bürger unterwegs, oder steckt mehr dahinter? Ein katholischer Akademiedirektor analysiert.

An der Fensterfront des Gemeindehauses der Propsteikirche Sankt Trinitatis in Leipzig steht der Schriftzug "22 ist nicht 89. Wir leben in keiner Diktatur!", am 9. Oktober 2022. / © Karin Wollschläger (KNA)
An der Fensterfront des Gemeindehauses der Propsteikirche Sankt Trinitatis in Leipzig steht der Schriftzug "22 ist nicht 89. Wir leben in keiner Diktatur!", am 9. Oktober 2022. / © Karin Wollschläger ( KNA )

DOMRADIO.DE: Sie erleben diese Demonstrationen im Bistum Dresden-Meißen ja hautnah. Wer sind denn eigentlich die, die demonstrieren? Kann man das so genau sagen?

Dr. Thomas Arnold, Direktor der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen / © Oliver Killig (Katholische Akademie Bistum Dresden-Meißen)

Dr. Thomas Arnold (Direktor der katholischen Akademie im Bistum Dresden-Meißen): Wie wir es schon 2015 erlebt haben, setzt sich das aus einer ganz bunten Gruppen von Menschen zusammen. Man kann "die" zwar nicht klar definieren, aber zwei Teile sind klar beobachtbar. Erstens: Es sind Rechtsextreme, die mitlaufen und die auch nicht davor zurückschrecken, rechtsextreme Symbole dort zu zeigen. Zweitens sind aber auch Menschen aus verschiedensten Bevölkerungsschichten mit dabei, die Wut haben, die auch Angst haben, die frustriert sind, die wir aber eigentlich in der Mitte der Gesellschaft verorten würden. Und das Erschreckende – das haben wir in den letzten Jahren ja leider schön häufiger beobachten müssen – ist, dass die keine Hemmungen haben bei Rechtsextremen mitzulaufen.

Wir nehmen in der Bundesrepublik wahr, dass die AfD rechtspopulistische Stimmungen parlamentarisch aufnimmt, die zum Teil ins Rechtsextreme gehen. Davor muss ich stark warnen. In Sachsen und Thüringen gibt es die Gruppierungen "Freie Sachsen" oder "Freies Thüringen", die demonstrieren und mobilisieren, anders als 2015 nicht nur in Großstädten wie Dresden oder Leipzig, sondern auch in kleinen Städten und Dörfern. Das muss uns zu denken geben. Wir sprechen hier zwar von einer Minderheit, die aber laut ist und außerordentlich schockierend mit ihren ablehnenden Positionen, die sie vertritt.

Integrationsbeauftragte sieht Rechtsextremismus als größte innere Gefahr 

Anlässlich des Gedenkens an die rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen vor 30 Jahren hat die Integrationsbeauftragte Reem Alabali-Radovan Anstrengungen der Bundesregierung im Kampf gegen den Rechtsextremismus zugesagt. "Der Rechtsextremismus ist weiterhin die größte innere Gefahr", sagte die SPD-Politikerin am Donnerstag im ZDF-"Morgenmagazin". "Das gehen wir aber auch als Bundesregierung an." 

Demonstration gegen Rechtsextremismus / © Uwe Zucchi (dpa)
Demonstration gegen Rechtsextremismus / © Uwe Zucchi ( dpa )

DOMRADIO.DE: Mit welchen Anliegen werden die Demonstranten laut und tragen ihre Unzufriedenheit auf die Straßen?

Arnold: Da mischt sich die ganze Gefühlslage. Es ist eine hohe Russlandfreundlichkeit erkennbar. "Frieden mit Russland", das ist natürlich leichter gesagt als getan. Da findet sich die Angst davor, dass eine Welle von Armut auf uns zukommt, also das, was auch bundespolitisch diskutiert wird. Wie kann man soziale Schärfen abschwächen? Das geht so weit, dass die Abschaffung der Bundesregierung oder die Abschaffung des Systems gefordert werden. Es sind keine Ideen dabei, wie man diese Krisen gestaltet, man findet nur eine ganz große Systemablehnung.

In Plauen – dort finden auch Demonstrationen statt – werden 22 Forderungen gestellt. Man könnte sie überschreiben mit: "Wir sind Hauptsache dagegen." Diese Forderungen haben einen Anklang an die 21 Forderungen von Solidarnosc (Anm. d. Red.: Polnische Gewerkschaft, die 1989 an der Revolution und Reform entscheidend mitgewirkt hat.) Da merkt man schon, wie auch Symboliken und Begrifflichkeiten genutzt werden, die aus einer ganz anderen Zeit kommen, aus einer Zeit, in der man noch ganz deutlich benannt hat wofür man steht und was man will. Damals ging es um Freiheit und Demokratie. Deswegen bin ich ein ganz klarer Befürworter des Slogans: "22 ist nicht 89".

DOMRADIO.DE: Die Frage, die sich stellt, ist, was Politikerinnen und Politiker dagegen tun können oder müssen und welche Verantwortung die katholische Kirche trägt. Welche Aufgaben haben wir als Christen, während die Demonstrierenden vielleicht auch die Energiekrise für sich und ihre Anliegen nutzen?

Arnold: Ich würde gar nicht so lange auf die Demonstrierenden schauen und die, die da mobilisieren. Ich würde fragen: Wie kann die Mitte der Gesellschaft mit diesen Ängsten einen Umgang finden? Wir erleben die Bundesregierung, die viel Geld ausgibt, vielleicht für manche auch zu viel Geld, und trotzdem nicht alle Ungerechtigkeiten damit lindern, verändern oder lösen kann. Deswegen kommt den Kirchen diesen Herbst und Winter eine Bedeutung in dreifacher Weise zu: Erstens, klar Position zu beziehen, da, wo Rechtsextreme zur Demonstration aufrufen, da, wo Leute das System zum Umsturz bringen wollen, sollen die Kirchen das auch klar benennen. Genauso, wenn Leute die Geschichte umdeuten wollen. In Leipzig und Dresden steht dieses Signal sehr deutlich und ich würde mich sehr freuen, wenn da weitere Pfarreien und kirchliche Institutionen mitmachen.

Zweitens: Ich glaube, wir kommen nicht drum rum, trotzdem die Themen aufzunehmen, also die Nöte, die Ängste ins Wort zu fassen und verschiedene Lösungsangebote nebeneinander zu legen. Das ist die klassische Aufgabe von Akademien, aber das kann auch akademische Orte übersteigen. Ich glaube, Kirche kann in diesem Winter zu einem Raum werden, wo diese Debatten, in einem ordentlichen Stil, mit Menschen aus der Mitte geführt werden können und wo auch Ängste zu Wort kommen können und Platz finden.

Drittens geht es um das politische System, für das wir einstehen. Eine liberale Gesellschaft lebt davon, dass sich Parteien um Konsens bemühen. Deswegen kann die Kirche dazu motivieren, sich einzubringen in diesem System, sich zu engagieren, so wie sie es schon nach 1989 gemacht hat. Ein Gefühl dafür entwickeln, auch zu kämpfen. Und am Ende wollen wir gemeinsam einen Konsens finden. Ich glaube, in diesem Dreiklang kann es funktionieren, dass man den öffentlichen Raum nicht rechten Kräften überlässt, die das System abschaffen wollen.

DOMRADIO.DE: An der Propsteikirche in Leipzig steht jetzt ganz neu "22 ist nicht 89, wir leben in keiner Diktatur". Wie ist das zu verstehen?

Arnold: Die Demonstrierenden oder die, die dazu aufrufen, arbeiten mit der Gefühlslage von Menschen. Die haben erlebt, wie es ist, wenn ein System stürzt. Sie haben erlebt, wie sich ein System verändern kann, weil Menschen auf die Straße gehen und dafür aufstehen. Aber noch mal ganz deutlich: Damals sind Menschen in einer Diktatur aufgestanden, weil sie für Freiheit eingestanden sind. Und wer heute meint, es gäbe keine Freiheit, der hat vergessen, was wirkliche Unfreiheit bedeutet. Wir leben in einem freien System. Wir leben nicht in einer Diktatur.

Deswegen können montags Leute auf die Straße gehen und müssen keine Angst davor haben, dass sie von Staatssicherheit oder ähnlichen Institutionen einfach wegradiert und eingesperrt werden. Deswegen kann man frei seine Meinung äußern. Dazu gehört dann aber auch, dass man sich in diese demokratischen Prozesse mit einbringt, Ideen entwickelt und nicht einfach nur dagegen ist.

Deswegen 22. Wir leben in einer Zeit, in der unsere Freiheit geschützt ist vor Willkür ist und eben nicht 89, in einer Zeit in der Unfreiheit und Willkür herrschte und ein Unrechtsstaat das Sagen hatte.

Das Interview führte Katharina Geiger.

Quelle:
DR