Im Jahr 2021 erhielt Bischof Michel Santier einen würdigen Abschied aus seiner Diözese Creteil. In seiner 13-jährigen Amtszeit im Südosten der Pariser Banlieue hatte er Frankreichs erste Kathedrale des 21. Jahrhundert geweiht - und auch sonst eine gute Figur gemacht. Nun nahm Papst Franziskus den vorzeitigen Amtsverzicht des damals 73-Jährigen an.
Santier fühle sich nach einer Corona-Infektion kraftlos und habe nicht mehr die nötige Energie für die Ausübung seines Amtes, hieß es damals. Und überhaupt: Schon vor der Infektion habe ihm die verschmutzte Luft in Creteil gesundheitliche Probleme bereitet, erklärte der Bischof. Seine Ärzte hätten Asthma und Schlaf-Apnoe diagnostiziert.
Nur die halbe Wahrheit
Dass dies kaum mehr als die halbe Wahrheit war, enthüllte nun die Zeitschrift "Famille Chretienne"; der Vatikan habe Santier im Oktober 2021 wegen "geistlichen Missbrauchs zu sexuellen Zwecken" sanktioniert. Es ging demnach um Vorfälle mit zwei erwachsenen Männern in den 90er Jahren, die diese Ende 2019 der Französischen Bischofskonferenz bekanntmachten. Vor seiner Zeit als Bischof habe Santier seine geistlichen Autorität missbraucht und das Beichtsakrament für "Voyeurismus" instrumentalisiert. So habe er die beiden jungen Männer dazu gebracht, sich vor ihm auszuziehen, wie das Bistum Coutances und Avranches am Wochenende erklärte.
Der Ort der Vorfälle: die damals von Santier geleitete "Schule des Glaubens" für junge Erwachsene in Coutances in der Normandie, 1989 von zwölf westfranzösischen Bischöfen gegründet. In den ersten zwei Jahrzehnten ihres Bestehens nahm sie etwa 300 junge Menschen zwischen 18 und 30 Jahren auf. Rund ein Zehntel davon trat später in einen Orden ein oder wurde Priester.
Santier selbst räumte die Vorwürfe bereits Ende 2019 ein. Doch er schwieg, auch über seine gesundheitsbedingte Pause im Sommer 2020 und seinen Amtsverzicht im Januar 2021 hinaus - wohl um weitere mögliche Opfer nicht zu weiteren Anzeigen zu ermuntern. Das passt freilich nicht zusammen mit dem erklärten Ziel der französischen Bischöfe, die Kirche zu einem "sicheren Haus" im Kampf gegen Missbrauch zu machen.
Nach dem von der Römischen Glaubenskongregation ausgesprochenen Strafgebot lebt Santier auf Aufforderung von Bischof Laurent Le Boulc'h von Coutances mittlerweile "zurückgezogen und im Gebet" in der früheren Abtei Saint-Sauveur-le-Vicomte in der Region Manche. Dort betreut er eine ansässige Schwesterngemeinschaft und besucht Ruhestandspriester.
Kannte Nachfolger Blanchet die Taten des Vorgängers
Warum aber wurden weder die Vorwürfe noch die Sanktionen früher kommuniziert? Das Verfahren der Glaubenskongregation sei bis Oktober 2021 gelaufen, argumentiert das Bistum Creteil laut der Zeitung "La Croix". Auch habe Santier selbst seine frühere Diözese nicht über die Strafmaßnahmen informiert; und die Opfer hätten nicht gewünscht, dass die Vorfälle von damals veröffentlicht werden.
Tatsächlich gibt es weder eine kirchenrechtliche Verpflichtung noch ein ausdrückliches Verbot, solche römischen Sanktionen öffentlich zu machen. Die Gewohnheit sei aber, nur die betroffene Person selbst in Kenntnis zu setzen, so berichten von der Zeitung befragte Kirchenrechtsexperten. Dieses System sei "undurchsichtig", kritisieren sie; es wolle "seine Urteile nicht kommunizieren und seine Rechtsprechung nicht zugänglich machen".
Fakt ist: Ein Aufruf der betreffenden Diözesen an mögliche weitere Opfer, sich zu Wort zu melden, ist bislang nicht erfolgt. Santiers Nachfolger in Creteil, Dominique Blanchet, auch Vizepräsident der Französischen Bischofskonferenz, versicherte die Opfer in einer Pressemitteilung seines "besonderen Mitgefühls". Tatsächlich hatte Blanchet Ende 2021 das Bischofshaus von Creteil zum Verkauf angeboten, um in den nationalen Fonds für Missbrauchsentschädigung einzahlen zu können. Wie sich nun herausstellt, wohl auch in Kenntnis der Taten seines Vorgängers.