DOMRADIO.DE: Die vor kurzem erschienene Studie "Jugend in Deutschland" hat gezeigt, dass ein Viertel der Befragten unzufrieden mit der psychischen Gesundheit ist. Wie erklären Sie sich das?
Pastorin Annika Woydack (Landesjugendpastorin der evangelisch-lutherischen Kirche in Norddeutschland): Die Jugendlichen oder die jungen Menschen sind einfach durch Corona, den Ukraine-Krieg und die Klimakrise verunsichert. Sie merken, dass das, was für sie immer als sicher galt, gar nicht mehr sicher ist. Freiheit, ein Leben in Frieden, das ist nicht so sicher, wie sie eigentlich damit großgeworden sind. Das verunsichert und führt natürlich auch zu Gedanken, die belastend sind.
DOMRADIO.DE: Die Autoren der Studie haben das so formuliert: Die "psychischen Abwehrkräfte" sind bei jungen Menschen einfach verbraucht. Wie können Sie als Jugendpastorin mit anderen Seelsorgerinnen und Seelsorgern da helfen? Jugendliche sind ja oft eher kirchenfern.
Woydack: Das stimmt. Aber wir sind auch mit jungen Menschen immer im Gespräch. Allein Gespräche, in denen man mal überlegt, was einen stärkt sowiedas Miteinander tagen dazu bei, dass junge Menschen das Gefühl haben: "Okay, hier werde ich gehört, hier kann ich was besprechen und hier kann ich möglicherweise Ideen auch umsetzen." Das ist das, was stärkt. Also Selbstwirksamkeit, Ideen entwickeln, in Aktion zu kommen, das hilft und stärkt junge Menschen in ihrem Ich-werden, im Großwerden und dann auch in ihrer Persönlichkeit.
Und es hilft dagegen, dass sie eben nicht in psychische Fragezeichen und große Rucksäcke, die sie mit sich tragen, abgleiten.
DOMRADIO.DE: Die Jugendlichen, die mit der Kirche nicht mehr so viel zu tun haben, könnte man darüber vielleicht auch wieder besser erreichen, oder? Ist es nicht besser, dass man weniger über die Sonntagsgottesdienste geht, sondern mehr über Gespräche, die eigentlich jeder gut findet?
Woydack: Ja, genau. Junge Menschen fanden den Sonntagsgottesdienst noch nie besonders gut. Das ist jetzt keine Überraschung. Es ist egal, wo wir sind. Aber beispielsweise auf Freizeiten, vor allen Dingen auf Ferienfreizeiten in allen Facetten entsteht Gemeinschaft. Oder bei Taizé-Treffen, wie bei dem kommenden bei uns in Rostock, entsteht ein Miteinander, aus dem sie dann Ressourcen miteinander verbinden. Die Jugendlichen merken: Ich bin nicht alleine, ich bin auch nicht alleine mit meinen Problemen. Das stärkt und das versuchen wir stark zu machen.
DOMRADIO.DE: Die Nordkirche hat sich jetzt auf die Fahne geschrieben, die Seelsorge für Jugendliche zu verbessern. 14 Diakone, Gemeinde- und Sozialpädagoginnen haben jetzt einen eineinhalbjährigen Lehrgang zu diesem Thema beendet. Was haben die da so gelernt? Wie geht man an das Thema heran?
Woydack: Vor allen Dingen steht im Vordergrund, wie ich junge Menschen stärken kann. Das ist immer die Frage. Wie führe ich Gespräche, in denen ich entdecke, wer mich stützt, wer mich trägt, was hilft?
Wir haben aber auch über Jugendspiritualität nachgedacht. Wie kann Glaube, wie können Andachtsformen, die zu den jungen Menschen passen, stärken? Wie können die dazu beitragen, dass du dich angenommen fühlst und merkst, dass du Gottes geliebtes Kind bist?
DOMRADIO.DE: Haben Sie da ein konkretes Beispiel? Was würde man bei einem Jugendlichen anders machen, als bei jemandem, der schon Mitte fünfzig ist?
Woydack: Man muss immer Sachen machen, bei denen junge Menschen selber in Aktion treten können. In denen sie sich auch austauschen können.
Wir haben eine Aktion mit Spiegeln, wo junge Menschen in den Spiegel gucken und noch mal sagen können: "Mensch, das ist ein Spiegel, wo ich mich sehe. Und Gott sieht mich als geliebtes Kind." Mit Spiegelfragmenten haben wir ganz viel experimentiert, das wäre ein Beispiel.
DOMRADIO.DE: Sie haben aber auch einige Angebote, die gezielt für Jugendliche sind. Zum Beispiel das Chatprojekt "Schreiben statt Schweigen". Wie kommt das bei den Jugendlichen an? Wird das gut genutzt?
Woydack: Das wird gut genutzt. Das ist sehr berührend, weil da Ehrenamtliche sitzen, die mit jungen Menschen chatten und auf ihre Fragen eingehen und mit denen zusammen überlegen: "Was brauchst du? Wer kann dazu beitragen, dass du das, was du brauchst, auch bekommst?"
Es ist komplett anonyn. Von daher vertrauen sich junge Menschen noch mal ganz unmittelbar an. Im normalen Kontext, wenn man den anderen kennt, sagt man nicht alles. Aber bei uns im Chat schreiben sie alles, weil sie wissen, dass der andere nicht weiß, wer sie sind. Da entstehen wirklich sehr berührende Gespräche.
Das Interview führte Michelle Olion.