DOMRADIO.DE: Laut einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung fühlt sich ein Drittel der Geflüchteten aus der Ukraine so wohl, dass sie sich vorstellen können, noch zu bleiben, vielleicht sogar für immer. Haben Sie das so erwartet?
Irene Porsch (Flüchtlingsbeauftragte der Caritas im Erzbistum Köln): Ehrlicherweise habe ich das so erwartet. Migrationsexpertinnen und -experten sprachen schon zu Beginn der Invasion durch Russland davon, dass viele Menschen mindestens fünf Jahre oder länger bleiben werden, weil vor Ort die Infrastruktur so massiv zerstört wird, dass die Perspektiven gerade für Kinder und Familien kaum noch vorhanden sind.
Auf der anderen Seite haben wir auch diesen Sommer erlebt, dass einige Ukrainerinnen und Ukrainer in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Aber sie müssen jetzt ihre Heimat wieder verlassen, weil die Heizung und alles andere fehlen.
Dieses Hin und Her ist gerade für die Kinder ganz schwierig. Deswegen ist es wichtig, Perspektiven aufzubauen. Wir haben unter den Geflüchteten einfach viele junge Familien. Dementsprechend habe ich es erwartet.
DOMRADIO.DE: Die deutliche Mehrheit der Befragten hat auch angegeben, sie habe sich bei ihrer Ankunft in Deutschland willkommen gefühlt. Klopfen Sie sich selber da auf die Schulter?
Porsch: Ja, da können wir uns wirklich selber auf die Schulter klopfen - gerade die Caritas hier im Erzbistum Köln in Zusammenarbeit mit der Aktion Neue Nachbarn. Wir haben da ein bisschen geerntet, was in den letzten Jahren gesät worden ist. Die Strukturen, die gerade nach 2015 und 2016 aufgebaut worden sind, haben ganz schnell gegriffen.
Innerhalb weniger Tage gab es hier in allen Regionen sogenannte Willkommenscafés, wo verschiedene Fachstellen - die Fachdienste Integration/Migration, aber auch die Erziehungsberatungsstellen und verschiedene andere Dienste - zusammen mit Ehrenamtlichen und Engagierten da waren und die Menschen begrüßt haben.
Sie haben den Menschen ganz schnell spontane Hilfe geleistet, aber zum Beispiel auch niedrigschwellige Sprachkurse oder Job-Paten und Patinnen vermittelt und an verschiedenen Stellen ganz schnell dafür gesorgt, dass für Ukrainer und Ukrainerinnen die Wege deutlich waren: Wie können wir uns hier integrieren, wenn wir erstmal zur Ruhe gekommen sind?
DOMRADIO.DE: Das Wort Krise hört man im Zusammenhang mit der jetzigen Flüchtlingssituation seltener als 2015 und 2016. Liegt das auch daran, dass die Menschen relativ gut qualifiziert sind? 72 Prozent der in Deutschland lebenden Geflüchteten aus der Ukraine verfügen über Hochschulabschlüsse oder vergleichbare Abschlüsse. Oder anders gefragt: Könnten diese Menschen vielleicht unseren Fachkräftemangel bremsen?
Porsch: Bremsen bestimmt nicht, aber sie können ihn sozusagen etwas abpuffern. In manchen Feldern sicherlich. Im Bereich der Pflege ist das schon zu sehen. Da waren auch vorher schon einige Menschen aus der Ukraine, die hier gearbeitet haben. In anderen Bereichen, denke ich, weniger. Insgesamt brauchen wir noch mehr Fachkräfte als die Menschen aus der Ukraine.
Ich glaube aber auch, dass die Unterscheidung nicht einfach daran liegt, dass die Menschen besser qualifiziert sind, weil das im Schnitt gar nicht so massiv der Fall ist. Es gab auch viele gut qualifizierte Syrerinnen und Syrer und Menschen aus Afghanistan.
Es ist eher so, was ja auch schon in den ersten Wochen zu merken war, dass uns Geflüchtete aus der Ukraine gefühlt näher sind und es deswegen einfacher fiel. Aber wir merken auch immer mehr, dass es gerade da gut funktioniert, wo für alle Geflüchteten Angebote gestartet werden und gar nicht mehr so groß unterschieden wird.
Generell muss man einfach sagen: Menschen aus der Ukraine haben hier in kürzester Zeit ganz andere Möglichkeiten geschaffen bekommen: Der andere Rechtsstatus, der Zugang zum Arbeitsmarkt, das sind Bedingungen, die es an vielen Stellen enorm vereinfacht haben.
DOMRADIO.DE: Es sind laut der Studie 17 Prozent, die im erwerbstätigen Alter sind und auch arbeiten. Ist das viel oder wenig?
Porsch: Das ist viel. Gerade wenn man bedenkt, dass es an gewissen Strukturen noch total fehlt. Es ist immer noch viel zu wenig Möglichkeit in der Kinderbetreuung da. Kitaplätze fehlen gerade für die Geflüchteten aus der Ukraine, und es sind viele mit Kindern da.
Deshalb sind 17 Prozent erstmal ein Erfolg, zumal auch jetzt gerade erst ein gutes halbes Jahr vergangen ist. Das ist, um Sprachkenntnisse zu erwerben - was für viele Arbeitsfelder notwendig ist - doch immer noch ein kurzer Zeitraum.
DOMRADIO.DE: Schlaue, gebildete Menschen haben die Ukraine verlassen, werden eines Tages aber dann wieder dringend zum Wiederaufbau gebraucht. Denken Sie, das wird noch Konfliktpotenzial bergen, wenn Ukrainer hier sesshaft geworden sind?
Porsch: Das ist eine gute Frage. An anderen Stellen zeigt sich immer wieder, dass selbst bei einem Sesshaft-Werden in anderen Ländern immer noch viel in die Heimatländer fließt. Das merken wir auch an verschiedenen afrikanischen Ländern.
Da fließen trotzdem viel Geld und Expertise ein oder auch Ausbildungsmöglichkeiten, die für junge Menschen geschaffen werden, dass sie die Möglichkeit bekommen, zum Beispiel in Deutschland zu studieren oder Ähnliches. Deswegen wird da sicherlich auch von hier aus viel Unterstützung des Aufbaus stattfinden.
Schwierig ist zu sagen, welche Konflikte es birgt, wenn man sich anguckt, wie zerstört die Städte sind und wie da überhaupt ein Aufbau wieder stattfinden kann, wenn hoffentlich irgendwann dieser Krieg beendet ist.
Ich glaube, da wird dann erstmal so viel Zeit vergangen sein, bis auch die Rahmenbedingungen wieder gegeben sind, dass Menschen da gut leben können, dass vielleicht auch andere Lösungen gefunden werden. Zumal zwischen der Ukraine und Deutschland keine Riesen-Distanz besteht: Man kann innerhalb von zwei Tagen mit dem Auto rüberfahren. Da können auch Menschen, die hier sesshaft geworden sind, viel unterstützen.
Das Interview führte Tobias Fricke.