Bröckelt die Tradition des Weihnachtsgottesdienstbesuchs?

Eine Frage des Anlasses

Wird Weihnachten ohne Kirchbesuch langsam zur Normalität? Die Soziologin Yasemin El-Menouar beobachtet einen allgemeinen Bedeutungsverlust der Kirchen. Sie sieht mit Blick auf Tradition und Religiosität aber eine eigene Dynamik.

Gottesdienstbesucher machen Kreuzzeichen / © Lars Berg (KNA)
Gottesdienstbesucher machen Kreuzzeichen / © Lars Berg ( KNA )

DOMRADIO.DE: Im Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung hat man gesehen, dass im Jahr 2022 nur noch 14 Prozent der Menschen mindestens einmal im Monat einen Gottesdienst besuchen. Deutlich weniger als noch vor zehn Jahren. Da war es immerhin jeder Fünfte. Was glauben Sie, wird sich das auch an Weihnachten so widerspiegeln oder ist das noch mal was anderes?

Yasemin El-Menouar, Leiterin der Sudie Religionsmonitor / © Bodo Marks (dpa)
Yasemin El-Menouar, Leiterin der Sudie Religionsmonitor / © Bodo Marks ( dpa )

Dr. Yasemin El-Menouar (Soziologin und Religionsexpertin, Leiterin des Religionsmonitors 2023): Diese 14 Prozent beziehen sich zum einen auf die Gesamtgesellschaft, also nicht nur auf die Kirchenmitglieder, sondern auf alle Religionsgemeinschaften und auch auf Menschen ohne Konfessionszugehörigkeit. Sie drückt den Anteil der Menschen aus, die regelmäßig, also mindestens einmal im Monat, zum Gottesdienst gehen.

Das heißt aber nicht, dass unbedingt der Weihnachtsgottesdienst damit ausfallen muss, sondern solche wichtigen Anlässe sind, wie wir sehen, dann doch ein Grund, um zum Gottesdienst zu gehen. Gerade an Weihnachten sind ja häufig die Kirchen auch sehr voll.

DOMRADIO.DE: Sie sagen selbst, die Gleichung religiös gleich kirchlich gelte für sehr viele Menschen nicht mehr. Das heißt, die Leute, die jetzt zu Weihnachten nicht in die Kirche gehen, können trotzdem gläubig sein. Wie wird Religiosität denn dann an Weihnachten gelebt oder wie könnte das aussehen?

El-Menouar: Viele verstehen sich ja als Christ, ohne unbedingt ihre Religion zu praktizieren, im Sinne davon, dass man regelmäßig zum Gottesdienst geht oder täglich betet. Dennoch verstehen sich Menschen als Christ, weil sie beispielsweise die Wertvorstellungen teilen, die mit dem Christentum verbunden werden. Das muss sich ja nicht ausschließen. Dann gibt es wiederum andere, die sicherlich auch ihren Glauben im Privaten leben. Sie sprechen zum Beispiel Tischgebete und bei ihnen nimmt Religion in der Familie eine wichtige Rolle ein, gerade wenn Weihnachten gefeiert wird oder die Kinder religiös erzogen werden.

Die Frage ist natürlich, was passiert, wenn die Kirche als Institution wegfällt. Ist das dann noch nachhaltig? Ich schließe aber nicht aus, dass diejenigen, die nicht mehr Mitglied in der Kirche sind und von sich sagen, dass sie die Kirche so nicht mehr brauchen, unbedingt dem Weihnachtsgottesdienst fernbleiben. Insgesamt sind es ja immer noch über zwei Drittel der Kirchenmitglieder, die sagen, dass sie zumindest selten zum Gottesdienst gehen. Ich könnte mir vorstellen, dass Weihnachten so ein Anlass sein könnte.

DOMRADIO.DE: Wie könnte so ein Weihnachtsfest zu Hause aussehen, wenn man jetzt sagt, man lässt den Gottesdienst fallen, aber die christliche Tradition ist trotzdem wichtig. Sie haben gerade schon im Alltag zum Beispiel von Tischgebeten gesprochen. Wie sieht das dann an Weihnachten aus?

El-Menouar: Das sieht so aus, dass man etwa gemeinsam durchaus religiöse Weihnachtslieder singt und auch versucht, die Weihnachtsgeschichte am Leben zu erhalten. Viele wissen beispielsweise auch gar nicht mehr, was Weihnachten ist oder was die Hintergrundgeschichte ist.

Da kann es so aussehen, dass man versucht, die Traditionen, die damit verbunden werden, in der Familie am Leben zu erhalten, aber die Institution Kirche wird dann vielleicht nicht mehr unbedingt als zentral oder als erforderlich dafür gesehen.

DOMRADIO.DE: Corona hat das Ganze irgendwie beeinflusst. Gibt es einen Grund, wieso die Leute denn nicht einfach wieder zur alten Tradition zurückkehren nach der Pandemie?

El-Menouar: Ich bin mir gar nicht so sicher, ob es vor der Pandemie unbedingt wesentlich besser war als nach der Pandemie. Ich könnte mir sogar andersherum vorstellen, dass sogar viele, die vor der Pandemie regelmäßig in die Kirche gegangen sind, auch zu dieser Tradition wieder zurückgekehrt sind und die täglichen oder die sonntäglichen Gottesdienste vermisst haben.

Diejenigen, die sich von den Kirchen entfernen, sind Menschen, die sich schon länger von den kirchlichen Angeboten entfremdet haben und für die Religion im Alltag keine so wichtige Rolle spielt. Diese Menschen sind wahrscheinlich auch vor der Pandemie nicht regelmäßig in die Kirche gegangen und für sie stellt sich jetzt die Frage, warum sie gerade angesichts der vielen kritischen Debatten um die katholische Kirche eigentlich noch Mitglied in der Kirche sind. Die Pandemie spielt, denke ich, eher eine nachrangige Rolle.

DOMRADIO.DE: Wieso sind die Leute denn früher zum Gottesdienst gegangen? Weil alle das tun und weil Oma das will? Oder waren die Leute damals auch wirklich gläubiger oder traditioneller?

Dr. Yasemin El-Menouar (Soziologin und Religionsexpertin, Leiterin des Religionsmonitors 2023)

"Zu besonderen Anlässen wird dann doch eine besondere Zeremonie wertgeschätzt."

El-Menouar: Wir sehen natürlich, dass dieser Zehn-Jahres-Verlauf, den wir uns im Religionsmonitor angeschaut haben, einen Ausschnitt eines längeren Trends zeigt. Der Bedeutungsverlust der Religion ist kein Prozess, der erst seit zehn Jahren stattfindet, sondern schon sehr viel länger zu beobachten ist.

Im Jahr 1950 war es zum Beispiel noch sehr normal, dass jeder entweder in der katholischen oder evangelischen Kirche Mitglied war. Der Anteil der Konfessionslosen war sehr gering oder fast nicht existent. Da war es völlig normal und selbstverständlich, sonntags in die Kirche zu gehen, denn das hat einfach jeder gemacht – und es gab auch keine andere Option. Das war normal.

Je mehr Menschen aber austreten, je mehr andere Möglichkeiten es gibt, den Sonntagvormittag zu verbringen, umso mehr stellt sich dann natürlich auch für andere Mitglieder die Frage, ob das überhaupt noch zu ihrem heutigen Lebensrhythmus und zu ihrem heutigen Alltag passt.

Wie wir aber sehen, ist es aber bei besonderen Ereignissen anders. Neben Weihnachten gehört da zum Beispiel auch der Einschulungsgottesdienst dazu, die sind meistens voll. Zu besonderen Anlässen wird dann doch eine besondere Zeremonie wertgeschätzt.

Das Interview führte Michelle Olion.

Weihnachten

Weihnachten ist das Fest der Geburt Jesu Christi. Wann genau vor etwa 2.000 Jahren Jesus geboren wurde, ist nicht bekannt. Die Feier des 25. Dezember als Geburtsfest Jesu ist erstmals für das Jahr 336 in Rom bezeugt.

Weihnachten heißt so viel wie heilige, geweihte Nächte. Die Geburt Jesu bedeutet nach christlichem Verständnis die Menschwerdung Gottes; in Jesus hat sich Gott den Menschen mitgeteilt, sich in ihre Geschichte hinein begeben, sich ihrer erbarmt und ihnen Heil geschenkt. Deshalb gilt Weihnachten als Fest der Liebe.

Weihnachtsbaum / © Bernd Weissbrod (dpa)
Weihnachtsbaum / © Bernd Weissbrod ( dpa )
Quelle:
DR