DOMRADIO.DE: In allen Nachrufen heißt es, Benedikt sei ein großer Theologe gewesen, der "Mozart der Theologie". Was genau war das Außergewöhnliche an seiner Art, Theologie zu betreiben?
Prof. Dr. Christoph Ohly (Rektor der Kölner Hochschule für Katholische Theologie und Professor für Kirchenrecht): Die Bezeichnung "Mozart der Theologie" bringt ja etwas zum Ausdruck, das an ein Genie denken lässt. Und ich würde sagen, das Außergewöhnliche des theologischen Denkens und Arbeitens von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. – so hat es vor einigen Jahren ein Buchtitel zum Ausdruck gebracht – ist, dass seine Theologie so etwas wie eine "Symphonie des Glaubens" ist. Es gibt nahezu keinen Bereich der Theologie, zu dem er nicht Stellung bezogen, geforscht und publiziert hat.
Die "Gesammelten Schriften" von Joseph Ratzinger, die im Institut Papst Benedikt XVI. in Regensburg herausgegeben werden, machen das in 16 Bänden sehr eindrucksvoll deutlich. Ob es die für ihn zentrale Gottesfrage und die Offenbarung Gottes ist, Person und Bedeutung Jesu Christi, die Wahrheitsfrage, Kirche und Welt, der Mensch im Blick auf seine Herkunft und Zukunft, Liturgie, Ökumene, Glaube und Vernunft, gesellschaftliche und kirchliche Zeitfragen und vieles andere mehr. Zu allem, was Theologie ausmacht – in seinen Schriften findet man in der Verantwortung vor dem Glauben der Kirche sowie in der Kraft der menschlichen Vernunft so Vieles, das dem eigenen theologischen Denken und Arbeiten Anregung, Vertiefung und Herausforderung bietet.
Und dabei vermag man zu erkennen, wie die Fäden des Denkens immer wieder zur Einheit des Glaubens zusammengefügt werden. Dahinter steht sicher die grundlegende Überzeugung, dass Theologie verantwortetes Denken gegenüber und Antwort auf Gott ist, der zuerst zum Menschen durch die Propheten, dann aber in Fülle in und durch seinen Sohn Jesus Christus gesprochen hat.
Ein Wort von Benedikt XVI. bringt das nicht zuletzt im Licht seines eigenen Sterbens berührend zum Ausdruck: "Ohne Antwort auf die Gottesfrage bleibt der Tod ein grausames Rätsel, und jede andere Antwort führt ins Widersprüchliche. Wenn aber Gott ist, der Gott, der sich in Jesus Christus gezeigt hat, dann gibt es ewiges Leben, und dann ist auch der Tod eine Straße der Hoffnung".
DOMRADIO.DE: Der frühe Ratzinger gilt als ein großer Reformer in der Kirche. Am Zweiten Vatikanischen Konzil hat er als Berater des Kölner Kardinals Frings maßgeblich mitgewirkt. Inwieweit hat er sich danach verändert und ist er zu einem konservativen Kirchenbewahrer geworden?
Ohly: Das ist eine These, die in den vergangenen Jahren immer wieder geäußert wurde. Ich persönlich habe mich viel mit der Theologie von Joseph Ratzinger beschäftigt und tue das, so gut es meine Verpflichtungen zulassen, auch weiterhin. Daher würde ich sagen, dass diese Gegenüberstellung von "Reformer" und "Konservativer" zu grob gezeichnet ist. Wer sich in sein theologisches Denken vertieft, wird die großen und markierenden Linien der Kontinuität erkennen, die ohne Zweifel immer wieder auch vor den Herausforderungen des jeweiligen zeitlichen Kontextes reflektiert werden.
Um ein Beispiel zu nennen: Der junge Joseph Ratzinger als Konzilsberater, der wesentliche Gedanken zur Frage "Was ist Offenbarung Gottes?" formuliert und darin der ganzen Kirche gerade durch die Konstitution "Dei Verbum" über die göttliche Offenbarung des II. Vatikanischen Konzils viel mitgegeben hat, ist in seinem theologischen Denken weiter gereift und hat diese Frage dann auch als Papst immer wieder neu aufgenommen: Was bedeutet das Verständnis der Offenbarung Gottes für die Gottesfrage? Was bedeutet dies in einer Zeit, in der wir eine "Gotteskrise" diagnostizieren, eine Art "Gottesvergessenheit", für unser Sprechen von und über und mit Gott? Dadurch reifen theologische Gedanken, die aber zugleich in einer unübersehbaren Kontinuität stehen. Ich bin daher überzeugt, dass es diese Entwicklung zu sehr vereinfacht, wollte man sie mit den Begriffen "Reformer" und "Konservativer" fassen.
DOMRADIO.DE: In letzter Zeit hat sich Benedikt XVI. auch zu den Ursachen des Missbrauchsskandals geäußert. Da gibt es soziologisch gefärbte Äußerungen von ihm, die besagen, dass die 1968er eine Mitschuld am Missbrauch tragen. Solche soziologischen Gedanken waren im Gegensatz zu seinem theologisch-philosophischen Werk eher nicht seine Stärke, oder?
Ohly: Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. besaß eine scharfe Beobachtungsgabe für den jeweiligen Kontext von Gesellschaft und Kirche, Politik und Geschichte. So sind auch seine Überlegungen zu den Ursachen sexuellen Missbrauchs in der Kirche und darüber hinaus nicht monokausal oder einseitig angelegt. Er hat unter anderem darauf hingewiesen, dass bei der Suche nach den Ursachen immer auch der Zeitkontext mit zu betrachten ist, in dem sich solch ein grausames Phänomen entwickeln konnte.
Er hat damit nie gesagt, dass deswegen die persönliche Schuld des Einzelnen außer Acht gelassen werden kann. Ganz im Gegenteil: Diese hat er herausgestellt und beispielsweise durch die Schaffung entsprechender strafrechtlicher Normen als Präfekt der Glaubenskongregation und später als Papst dafür gesorgt, dass hunderte von straffällig gewordenen Priestern sanktioniert und aus dem priesterlichen Dienst entlassen wurden.
DOMRADIO.DE: Es gibt viele berühmte Zitate von Joseph Ratzinger. Ihn hat mal ein Kind gefragt, wie viele Wege es zu Gott gebe. Und die Antwort war "So viele Wege, wie es Menschen gibt." Gibt es Zitate von ihm, die Ihnen ganz besonders im Gedächtnis bleiben?
Ohly: Ich möchte an zwei erinnern. Zum einen hat er immer wieder eine sehr schöne Aussage des Apostels Paulus aus dem Galaterbrief (2,20) betont, dass der Christ, der in der Taufe mit Christus verbunden worden ist, mit Paulus sprechen kann: "So lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir", … mit seinem Leben, mit seinem Sterben, mit seinem Auferstehen. Die jüngsten Berichte, dass er als letzte Worte "Herr, ich liebe dich" gesprochen hat, lässt diese Christusverbundenheit, diese Christusfreundschaft sehr bewegend vernehmbar werden.
Und ein zweites Beispiel: Ich glaube, das kennen wir alle noch. Ein Wort, das einen seiner Deutschlandbesuche geprägt hat: "Wer glaubt, ist nie allein." Was das bedeutet, sehen wir in diesen Tagen wieder. Wenn jemand stirbt und uns im Glauben vorausgeht, bleiben wir nicht alleine zurück, und auch derjenige, der uns vorausgegangen ist, ist nicht allein, er ist getragen durch den Glauben der Kirche, durch die Gemeinschaft der Kirche. Und das macht auch das Schöne des Glaubens aus, dass Glaube immer Gemeinschaft bedeutet, Gemeinschaft mit Gott und mit allen Gläubigen der Kirche. Daraus lassen sich viel Hoffnung und viel Zuversicht ableiten.
DOMRADIO.DE: Sie reisen nach Rom, um an der Beerdigung am Donnerstag teilzunehmen. Mit welchen Gedanken reisen Sie jetzt in den Vatikan?
Ohly: Mit großer Dankbarkeit für vieles, was er uns im theologischen Denken, im Bekenntnis und in der Verkündigung des Glaubens geschenkt hat. Natürlich mischt sich darunter auch ein wenig Trauer in einem bewegten Herzen, aber eben doch auch vor allem die Gewissheit der Freude des Glaubens, die er selbst immer verkündet hat: Dass der Tod nicht das Ende des Menschen ist, sondern das Durchgangstor zum Leben in Gott.
Hinzu kommt sicher der Gedanke, dass viele, denen ich dort begegnen darf, eine Stärkung im Glauben erfahren und dass die Beisetzungsfeierlichkeiten vor allem ein Glaubenszeugnis für unsere Zeit, für unsere Welt werden, auf das wir wirklich bauen können. Benedikt XVI. hat es ja in seiner ersten Enzyklika herausgestellt: Gott ist die Liebe und er will das Leben des Menschen. Von daher kommen da viele Empfindungen zusammen: große Dankbarkeit und die Erfahrung der Zuversicht, der Hoffnung in der Gemeinschaft der Kirche.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.