DOMRADIO.DE: Sie wollen in der Kirche das ausprobieren, was Sie sich während des Studiums beim Bierabend ausgedacht haben, haben Sie mal gesagt. Was sind denn da für Ideen entstanden?
Christopher Schlicht (Pfarrer in einer evangelisch-lutherischen Gemeinde in Bremerhaven): Ich will ganz ehrlich sein: Als ich selber als Jugendlicher in der Kirche gesessen habe, hatte ich manchmal das Gefühl, ich bin irgendwie nicht clever genug für Kirche. Im Studium haben wir dann überlegt, wie man Kirche ein bisschen mehr so machen kann, wie wir sie als Jugendliche oder als junge Erwachsene gebraucht hätten. Da war Verständlichkeit eines der wichtigsten Dinge.
Das andere war Nähe, zum Beispiel mit Alltagsklamotten. Ich bin hier in Bremerhaven in einem sozialen Brennpunkt und da bringt dieses große schwarze Gewand, was wir als lutherische Pastoren tragen, oft auch sehr viel Distanz zwischen uns und die Leute.
DOMRADIO.DE: Dass die Kirche jetzt mit einem Vertrauensverlust und hohen Austrittszahlen zu kämpfen hat, ist kein Geheimnis mehr. In wieweit funktioniert da auch Ihr junges und vielleicht ungewöhnliches Konzept?
Schlicht: Hier bei uns im Viertel funktioniert Kirche als Beziehung. Die Leute suchen weniger eine Autorität und einen Wegweiser, sondern ein authentisches Gegenüber, also eine Person, bei der sie wissen, wo man selber steht. Wir arbeiten hier im Viertel ganz viel mit Social Media und werden tatsächlich von unserer Kirche auch dafür bezahlt, auf den Sozialen Medien zu arbeiten. Instagram ist da ganz vorne.
Die Chance ist, dass die Leute uns schon mit einem Sicherheitsabstand kennenlernen können. Die sehen dann unsere Beiträge und Stories und merken: Hey, die sind ja genauso lieb und genauso blöd wie wir selbst. Dann kann eine Beziehung wachsen.
DOMRADIO.DE: Haben Sie das Gefühl, dass dadurch auch das Vertrauen in die Kirche wieder zurückkommt?
Schlicht: Ja, aber wie gesagt, bei uns im Viertel funktioniert das über einen persönlichen Kontakt. Denn all die Sehnsüchte danach, über die wichtigen Dinge im Leben nachzudenken und begleitet zu werden, wie bei der Hochzeit, bei der Taufe, bei der Beerdigung merken wir hier im Viertel genauso.
Aber manche wurden von der Kirche ein bisschen enttäuscht und manche haben vielleicht auch einfach das, was wir als kirchliche Antworten gegeben haben, nicht verstanden. Darum ist uns die Verständlichkeit so wichtig.
DOMRADIO.DE: Wie ist es Ihnen denn überhaupt möglich gewesen, auf Talar zu verzichten und sogar mit Mütze den Gottesdienst zu halten?
Schlicht: Ganz ehrlich, es gab sehr viele Leute, die etwas ungehalten darüber waren, wie wir diesen Gottesdienst halten. Aber das war nicht bei allen so. Ich bin jetzt Mitte 30. Mein erster Gedanke war, vielleicht sind es auch eher die älteren Leute, die damit ein Problem haben. Aber am meisten begeistert und geflasht haben mich mehrere Gespräche mit Leuten, die über 80 Jahre alt waren.
Es gibt drei Gruppen. Ein Drittel findet gar nicht gut, was wir machen. Also kein bisschen. Für die haben wir dann eine andere Kirchengemeinde hier in der Nähe gesucht.
Ein anderes Drittel sagt: Ja, das ist jetzt nicht unsers, aber wir finden es gut, dass so viele junge Menschen und junge Familien jetzt hier sind.
Und ein anderes Drittel sagt: Wir wünschen uns seit 40 Jahren, dass in Kirchen ein bisschen was anders läuft. Das passiert jetzt endlich. Wir feiern hier sonntags immer um 17.00 Uhr Gottesdienst. Die treffen sich schon um 15.00 Uhr zu Kaffee und Kuchen und kommen danach extra zu uns. Sie waren selbst seit Jahrzehnten nicht mehr in der Kirche.
DOMRADIO.DE: Wäre dieses Konzept nicht auch in der katholischen Kirche vorstellbar? Oder warum gerade nicht?
Schlicht: Was in der katholischen Kirche nicht vorstellbar ist, ist die Form von partizipativem Gottesdienst, den wir über Stream machen. Aber das liegt ein Stück weit auch an der Vorstellung der Messe und der körperlichen Anwesenheit. Sonst sind viele Bereiche, vor allem dieses Zwischenmenschliche, sowohl für Pastor*innen als auch für Priester denkbar.
Wichtig ist, ein Stück weit auf die Verständlichkeit zu achten. Dafür muss man hier und da ein bisschen das geliebte Ritual aufgeben, denn viele Formulierungen, die man seit Jahrzehnten kennt und an die man sich gewöhnt hat, verlieren ein Stück weit an Verständlichkeit.
Das ist hier bei uns im Brennpunkt-Viertel mit das Wichtigste. Wenn uns die Leute hier treffen, geben sie uns eine Chance. Wenn sie uns verstehen und fühlen, dann kommen sie wieder. Wenn sie aber das Gefühl haben "okay, ich versteh' hier gar nichts", dann hat man die auch nur einmal gesehen.
Das Interview führte Tim Helssen.