DOMRADIO.DE: Der Papst ist im Moment im Kongo unterwegs. Ein Land, das mit dem "zairischen Ritus" anders Gottesdienst feiert als wir in Deutschland. Wie unterscheidet sich der Ritus von unserem?
Pfarrer Dr. Marius Linnenborn (Leiter des Deutschen Liturgischen Instituts (Trier), Priester des Bistums Essen): Offiziell handelt es sich um das "Römische Messbuch für die Diözesen Zaires". Damit kommt schon zum Ausdruck, dass es sich um eine Variante der allgemeinen römisch-katholischen Ordnung für die Feier der Messe handelt. Eingeführt wurde diese Form für die Diözesen Zaires, des heutigen Kongos, unter Papst Johannes Paul II. im Jahr 1988.
Die Grundstruktur von Wortgottesdienst und Eucharistiefeier ist natürlich identisch mit der Form, wie wir sie feiern. Insbesondere der Eröffnungsteil der Messe ist aber weiter entfaltet und weist einige Besonderheiten auf.
Die Gemeinde wird eingeladen, sich bewusst in die Gegenwart Gottes zu stellen. Nach einer Zeit der Stille zur inneren Sammlung werden dann die Heiligen um ihre Fürbitte angerufen und in diesem Zusammenhang auch die Vorfahren angesprochen: "Ihr, unsere rechtschaffenen Ahnen, seid mit uns."
Damit wird an die hohe Wertschätzung der Vorfahren in der afrikanischen Kultur angeknüpft. Eine weitere Besonderheit ist, dass der Friedensgruß mit dem Bußritus und Schuldbekenntnis verbunden ist, die auf das Glaubensbekenntnis folgen. Die Gemeinde ist insgesamt stärker und lebhafter durch Gesten und Akklamationen an der liturgischen Handlung beteiligt.
DOMRADIO.DE: Wie kam es dazu, warum feiert man im Kongo einen eigenen Ritus?
Linnenborn: Die Liturgiekonstitution "Sacrosanctum Concilium" des Zweiten Vatikanischen Konzils hatte im Rahmen seines zentralen Anliegens einer umfassenden Erneuerung der Feier der Liturgie nicht nur die Möglichkeit eröffnet, dass die eigene Landessprache bei der Messe und den Sakramenten gebraucht werden kann, sondern auch weitergehende Anpassungen ermöglicht.
Im Kapitel über die Erneuerung der Liturgie gibt es einen eigenen Abschnitt unter der Überschrift "Regeln zur Anpassung an die Eigenart und Überlieferungen der Völker", was man im allgemeinen Sprachgebrauch unter Inkulturation versteht. Darin wird ausdrücklich von "berechtigter Vielfalt und Anpassung an die verschiedenen Gemeinschaften, Gegenden und Völker" gesprochen, aber natürlich zugleich auf die "Wahrung der Einheit des römischen Ritus" Wert gelegt (Nr. 38).
Bereits im Jahr 1970 hatten die Bischöfe Zaires, heute Demokratische Republik Kongo, übrigens eines der afrikanischen Länder mit dem höchsten Anteil von Katholiken, ungefähr die Hälfte der Bevölkerung, bei der vatikanischen Gottesdienst-Kongregation einen Antrag auf die Erarbeitung einer eigenen Form für die Eucharistiefeier gestellt.
Bis zur endgültigen römischen Approbation hat es dann fast 18 Jahre lang gedauert. Die Bischöfe von Zaire hatten damals in ihrem Vorwort geschrieben, dass das Anliegen dieses Messbuchs eine "gleichermaßen authentisch afrikanische wie auch wahrhaft christliche und katholische Liturgie" ist.
DOMRADIO.DE: Das Messbuch der katholischen Kirche im Kongo ist aber nicht das einzige, das sich vom klassischen, römischen unterscheidet. Welche Arten gibt es sonst noch?
Linnenborn: Im Unterschied zum orientalischen Christentum, das eine große Vielfalt konfessioneller Verzweigungen und unterschiedlicher Riten kennt, ist die Westkirche in der Liturgie relativ einheitlich geprägt, das hängt sicher mit der starken Stellung des Papstes zusammen. Aber dennoch gab es in früheren Jahrhunderten auch in Mittel- und Westeuropa eine größere Vielfalt, auch unter den Bistümern des deutschen Sprachgebiets.
Im Bistum Trier wird noch heute eine eigene feierliche Form des Eucharistischen Segens praktiziert, die aus dieser Zeit stammt. Zeitweise ging die Tendenz zu größerer regionaler Eigenständigkeit, dann wieder zu stärkerer Einheitlichkeit, um die gemeinsame Identität zu stärken, zum Beispiel nach dem Konzil von Trient als Antwort auf die Reformation.
Heute sind in Europa noch der Ambrosianische Ritus in der Kirchenprovinz Mailand und der sogenannte Mozarabische Ritus in Spanien lebendig, der aber nur an wenigen Orten gefeiert wird.
Im orientalischen Bereich gibt es ja viele Gemeinschaften, die als "Unierte" den Papst anerkennen und damit katholisch sind, aber ihre eigenen liturgischen Feierformen haben. Das kann bis dahin gehen, dass es ein Eucharistisches Hochgebet gibt, die sogenannte "Anaphora von Addai und Mari", deren Ursprünge bis ins 3. Jahrhundert zurückreichen und die ohne Einsetzungsworte auskommt, die aber für die chaldäisch-katholische Kirche offiziell von Rom anerkannt ist.
Ein anderes Beispiel ist das Messbuch "Divine Worship": Papst Benedikt XVI. hatte den Anglikanern, die zur katholischen Kirche konvertierten, ermöglicht, viele liturgische Formen aus ihrer Tradition beizubehalten.
DOMRADIO.DE: Wieso kann es denn in einer Kirche unterschiedliche Riten geben?
Linnenborn: Historisch gesehen hat sich die Vielfalt liturgischer Ausdrucksformen seit der Antike in den Einzugsbereichen der großen Metropolen herausgebildet: Antiochia, Alexandria, Rom, Konstantinopel, Mailand. Die in ihren Regionen einflussreichen Bischofssitze prägten in Teilen sogenannte Ritusfamilien mit eigenen Traditionen aus, die im Laufe der Jahrhunderte zwar weiterentwickelt, im Wesentlichen aber bewahrt wurden.
Bei aller Diversität kommt es eben immer darauf an, dass in den wesentlichen Elementen die Einheit der liturgischen Feier bestehen bleibt. Das ist ja gerade das Schöne an unserer katholischen Liturgie, dass ich mich überall in der Welt im Gottesdienst zu Hause fühlen kann, weil ich die grundlegende Struktur kenne.
DOMRADIO.DE: Zur Amazonas-Synode 2019 wurde viel über einen eigenen Amazonas-Ritus gesprochen. Ist es denn möglich, solche Riten neu zu schaffen?
Linnenborn: Im Prozess der Anerkennung einer eigenen Form der Messfeier für die Katholiken in Zaire war von römischer Seite Wert darauf gelegt worden, dass dies nicht als "Zairischer Ritus" bezeichnet wird, sondern als "Messbuch für die Diözesen Zaires". Es sollte offenbar keine neue Ritusfamilie entstehen, sondern nur eine eigene Ausprägung innerhalb der lateinisch-katholischen Liturgie.
In jedem Fall müssen die offiziellen Bücher, die in einem Land oder einem Sprachgebiet wie dem deutschen für die Feier der Messe und der Sakramente erarbeitet werden, von der zuständigen Stelle im Vatikan eine Bestätigung erhalten, damit sie in der Liturgie gebraucht werden können. Heute ist dies das "Dikasterium für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung", das für die einzelnen liturgischen Feiern jeweils ein lateinisches Buch herausgibt, die sogenannte "Editio typica", das dann in die Landessprache übertragen wird. Wie weit dieser Übersetzungsprozess wortwörtlich erfolgen soll und wie groß dabei die Möglichkeiten von Anpassungen und Variationen sind, ist immer wieder ein Thema, um das gerungen wird.
Nach einer Zeit der strengeren Auslegung der Übersetzungsregeln hat Papst Franziskus im Jahr 2017 den Bischofskonferenzen wieder die Hauptverantwortung für die Erstellung der liturgischen Bücher zurückgegeben. Wo sollte besser entschieden werden können, was die angemessene sprachliche Umsetzung eines bestimmten Inhaltes ist, als im jeweiligen Sprachgebiet selbst, wo sich Bischöfe sowie Fachleute aus der Liturgiewissenschaft und aus der Praxis in Kommissionen intensiv mit diesen Fragen beschäftigen? Es sollte ja nicht auf eine sprachliche Uniformität und wortwörtliche Übersetzung ankommen, sondern darauf, dass ein liturgischer Text eine bestimmte Aussage wiedergibt, und zwar in einer Weise, die die feiernde Gemeinde mitvollziehen kann.
Das muss meines Erachtens nicht unbedingt heißen, dass alle jedes einzelne Wort in seiner ganzen Bedeutung ermessen können. Es kommt immer sehr darauf an, wie diejenigen, denen das Beten im Namen der Gemeinde aufgetragen ist, ein Gebet sprechen, damit alle wirklich innerlich mitbeten und dann ihr "Amen" dazu sagen können. Im Hinblick auf die Erarbeitung einer Neuauflage des deutschsprachigen Messbuchs, die in den nächsten Jahren ansteht, wird die Frage der angemessenen Sprache bei liturgischen Gebeten ein vorrangiges Thema sein.
DOMRADIO.DE: Wäre denn auch ein eigener Ritus in Deutschland denkbar, zum Beispiel mit Frauen am Altar?
Linnenborn: Das ist keine Frage, die aus liturgischer Sicht entschieden werden kann, das ist eine Frage, die die Theologie des kirchlichen Amtes betrifft. Ich muss gestehen, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass es westlich der Oder eine Weihe für Frauen gibt, östlich der Oder aber nicht. Meines Erachtens sind das Fragen, für die eine grundlegende Übereinstimmung in der Weltkirche bestehen muss.
Anders verhält es sich dagegen mit einzelnen liturgischen Texten und Formen. Bereits heute ist das Messbuch in deutscher Sprache nicht völlig deckungsgleich mit dem lateinischen Messbuch, es gibt eigene deutsche Texte, für die es keine lateinische Vorlage gibt.
Im italienischen Messbuch finden sich schon seit langer Zeit sogenannte Perikopenorationen: Tagesgebete für die Sonntage, die die Schriftlesungen des jeweiligen Lesejahres aufgreifen. So etwas würde ich mir auch für unser zukünftiges Messbuch wünschen. Es ist keine Frage: Das angemessene Austarieren von Einheit und Vielfalt in der Liturgie bleibt für jede Zeit eine Herausforderung.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.