DOMRADIO.DE: Freudenberg ist eine kleine Stadt mit knapp 18.000 Einwohnern, da kennt man sich. Was bedeutet das, wenn so etwas Schlimmes passiert?
Irmtrud von Plettenberg (Gemeindereferentin und Trauerbegleiterin im Pastoralen Raum Siegen-Freudenberg):
Im Moment herrscht in der ganzen Stadt eine Lähmung. Alle sind in irgendeiner Weise betroffen. Ob es die Familien der Feuerwehrleute sind, die gesucht haben, ob Polizisten, die Verwandtschaft, Schulkameraden, Kinder, die im Schulbus zur Gesamtschule mitgefahren sind: Es gibt eine Lähmung, Ohnmacht und Sprachlosigkeit.
DOMRADIO.DE: Wie haben Sie von Luises Tod und den Umständen erfahren?
von Plettenberg: Durch einen Anruf. Da bin ich gefragt worden, ob ich irgendwas dazu sagen könne. Dann bin ich am Sonntagabend zum Gebet gefahren. Seitdem nehmen die Gespräche, aber auch das Schweigen nicht ab.
DOMRADIO.DE: Kannten Sie Luise und die beiden Mädchen, die als mutmaßliche Täterinnen genannt werden?
von Plettenberg: Ich kannte die Familien nicht, weil mein Arbeitsschwerpunkt in der Trauerpastoral liegt. Aber das ist ganz egal für die Betroffenheit, das Miteinander und das gemeinsame Tragen. Ich kenne sehr viele Menschen, die diese Familien oder eine von ihnen kennen, die Kinder im gleichen Alter haben und die sich mit ihrer Ratlosigkeit an mich oder an uns wenden. Unsere Aufgabe als Seelsorgerinnen und Seelsorger ist es jetzt, unsere Ohren zu leihen, einfach da zu sein, zuzuhören, zu beten und stellvertretend die Ratlosigkeit ins Gebet zu bringen.
DOMRADIO.DE: Sie haben in den vergangenen Tagen viele Nachrichten bekommen von Menschen, die fassungslos sind. Wie reagieren Sie darauf?
von Plettenberg: Ich schweige mit den Menschen. Und wenn ich jetzt auch mit Schuldzuweisungen und Hassnachrichten konfrontiert werde, versuche ich deutlich, zu deeskalieren. Denn das Leid und die Strafe, die die beiden Täterinnen und ihre Familien jetzt haben, das ist so unsäglich. Diese Fassungslosigkeit und das Leid der Familie von Luise. Es ist alles so bodenlos und es ist viel wichtiger, das im Moment aushalten zu können und nicht das eigene nicht-ertragen-können höher zu stellen als das Leid der Familien.
DOMRADIO.DE: Sicher taucht in vielen Köpfen auch die Frage auf: Wie kann Gott so etwas Schreckliches zulassen? Auch bei Ihnen?
von Plettenberg: Ja, auf jeden Fall. Und daneben habe ich die Ahnung oder die für mich die ganz große Frage: Was für einen Medienumgang haben wir, dass so etwas passiert? Wie medienfit sind Kinder, dass sie in der Folge irgendwelcher Filme zu solchen Reaktionen kommen? Das ist für mich die stärkere Frage.
Die Frage nach Gott bringt mir auch ein Stück Ohnmächtigkeit. Gott ist nicht nur der Allmächtige, sondern auch der Ohnmächtige, der ja in vielen Leben und in vielen Werten keine Rolle mehr spielt.
DOMRADIO.DE: Die mutmaßlichen Täterinnen sind unter 14 Jahren und deshalb noch nicht strafmündig. Dennoch gibt es jetzt Rufe nach harter Bestrafung, nach Änderung des Kinder- und Jugendstrafrechts. Was entgegnen Sie solchen Rufen?
von Plettenberg: Dass ich da die falsche Ansprechpartnerin bin. Das sind ja gesamtgesellschaftliche Fragen: Wie gehen wir mit dem offenen Zugang zu gewaltverherrlichenden Filmen um? Wie gehen wir mit Medienerziehung um? Da sind zwei Mädchen, die respektlos mit dem Leben umgehen, weil die Gesamtgesellschaft das tut. Der Tod und das Töten sind allgegenwärtig in den Medien. Ich weiß nicht, ob die Kinder das nicht abschätzen können. Ich bin da nicht die Antwortende, ich bin die Mit-Fragende, die Fragende an der Seite. Aber ich bin nicht die Verurteilende.
DOMRADIO.DE: Sie sehen ihre Aufgabe auch darin, in dieser schweren Situation zu deeskalieren. Wie wollen Sie das versuchen?
von Plettenberg: Indem ich da bin, indem ich auf die Menschen zugehe. Wir haben in Freudenberg sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche zum Gebet geöffnet. Ich komme jetzt gerade von einer Tagung wieder nach Hause und möchte dort vorschlagen, dass wir auch eine Präsenz dort haben, dass die Menschen zu Gesprächen kommen können. Ich selbst möchte auf jeden Fall da sein.
Das Interview führte Dagmar Peters.