KNA: Sie haben sich grundsätzlich mit Altarbildern beschäftigt. Wie sind Sie dazu gekommen, den Streit in Naumburg um das Altarbild von Michael Triegel wissenschaftlich zu bearbeiten?
Georg Habenicht (Kunsthistoriker): Das war zunächst ganz zufällig. Den Naumburger Dom kannte ich gut. Aber die vielen Schriftquellen, die Matthias Ludwig, Leiter der Domstiftsbibliothek und des Domstiftsarchivs Naumburg, und Holger Kunde, Stiftsdirektor der Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg, ausgewertet haben, waren ein Überraschung. Mein Interesse war geweckt und ich begann zu schreiben.
KNA: Wer hat Sie beauftragt?
Habenicht: Niemand. Ich habe weder eine Fahrtkostenpauschale erhalten noch eine Aufwandsentschädigung oder Zuschüsse für die Übernachtungen. Ich lege auf diese Unabhängigkeit großen Wert.
KNA: Zu welchem Ergebnis sind Sie nach der Durchsicht der Quellen gelangt?
Habenicht: Ich bin zweimal in Naumburg gewesen, um mir vor Ort ein umfassendes Bild von der monumentalen und dokumentarischen Überlieferung zu machen. Besonders ergiebig sind die Domrechnungen, die nur wenige Lücken aufweisen und darüber hinaus recht gesprächig sind, was bei Rechnungen im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts nicht immer der Fall ist.
Das Ergebnis ist, dass das von Lucas Cranach dem Älteren 1520 vollendete Retabel ausweislich aller erhaltenen Schriftquellen im Westchor stand, und zwar dort auf dem Hauptaltar. Es war ehedem merklich höher als der Cranach-Triegel-Altar heute.
KNA: Und was ist mit den Blickachsen auf die Stifterfiguren, die der Internationale Rat für Denkmalpflege (ICOMOS) für die Unesco angemahnt hat?
Habenicht: Die von ICOMOS behaupteten sensiblen Blickachsen durch den Westlettner verhedderten sich 1520 an grünen, circa 1,80 Meter hohen Vorhängen. Die berühmten Stifterfiguren waren nur an hohen kirchlichen Festtagen sichtbar. Die grünen Vorhänge waren keine Fastenvorhänge, wie man zunächst dachte. Sie hingen ständig im Westchor.
KNA: Der Cranach-Altaraufsatz stand nur 20 Jahre im Westchor. Er fiel 1541 in Teilen dem Bildersturm zum Opfer. Nur zwei Altarbildflügel, Retabelflügel existieren noch.
Habenicht: Das ist richtig.
KNA: Soll man einen Zustand, der nur 20 Jahre währte, mit dem neuen Cranach-Triegel-Retabel verewigen?
Habenicht: Das ist eine sehr gute Frage. Der Wunsch des Domkapitels und der Bischöfe war 1520 natürlich, dass das Retabel dort bis zum Jüngsten Tag steht. Andere Ausstattungsstücke des Spätmittelalters existieren noch. Wollte man einen hochmittelalterlichen Zustand wie um 1248 im Stifterchor zementieren, müsste man ein Grabmal und das Chorgestühl aus dem Westchor entfernen.
KNA: Beeinträchtigen die Altartafeln nicht den Westchor, verfälschen sie ihn in gewisser Weise nicht?
Habenicht: Ja und Nein. Ich meine, sie transponieren monumentale Vergangenheit in die Zukunft. Lucas Cranach der Ältere ist ja nicht irgendwer, sondern eine der besten Adressen deutscher Malerei. Warum nicht den Gedanken des Paragone, also des Wettstreits der Künste, der dürerzeitlich ist, im Westchor sich entfalten lassen, als Dialog zwischen den Gattungen Malerei und Skulptur.
KNA: Sollte das Retabel nach Naumburg zurückkehren?
Habenicht: Das ist eine politische Entscheidung. Dazu kann ich nichts sagen. Ich kann nur sagen: Die Entfernung des Cranach-Triegel-Retabels aus dem Naumburger Westchor war wissenschaftlich unbegründet. Und die Gutachter von ICOMOS, welche die UNESCO beraten, argumentieren dezidiert wissenschaftlich. Ihre Argumentation hält der quellenkritischen Überprüfung nicht Stand.
Das Interview führte Christiane Laudage.