Welche Rolle spielt die Religion im türkischen Wahlkampf?

"Keine Lust mehr auf Schwarz-Weiß-Denken"

Der türkische Präsident Erdoğan betont bei jeder Gelegenheit seinen muslimischen Glauben. Sein Herausforderer Kılıçdaroğlu bekennt sich dazu, gläubiger Alevit zu sein. Türkei-Expertin Marion Sendker bewertet das als klugen Schachzug.

Ein Mann schwenkt eine türkische Fahne / © arda savasciogullari (shutterstock)
Ein Mann schwenkt eine türkische Fahne / © arda savasciogullari ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: "Ich bin Alevit und ich bin ein aufrichtiger Muslim". Das hat der Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu gesagt. Die Aleviten in der Türkei sind eine religiöse Minderheit, denn die Mehrheit der Menschen in der Türkei gehört dem sunnitischen Islam an. Welche Bedeutung hatte diese Aussage vor dem Hintergrund?

Marion Sendker / © Burhan Akdag (DR)
Marion Sendker / © Burhan Akdag ( DR )

Marion Sendker (Journalistin und Türkei-Expertin): Das hatte eine sehr große Bedeutung. Denn es ist ziemlich ungewöhnlich in der Türkei, dass ein Politiker oder überhaupt jemand, der hochrangig im öffentlichen Leben steht, sich dazu bekennt, zu einer religiösen oder kulturellen Minderheit zu gehören.

Schätzungsweise 15 bis 25 Prozent der Menschen in der Türkei gehören dem alevitischen Glauben an, bezeichnen sich selbst auch als Aleviten. Das war immer eine Art Tabuthema.

In vorherigen Wahlkämpfen hat Präsident Erdoğan gerade gegen die Partei von Kılıçdaroğlu gewettert, weil dort besonders viele Aleviten sind. Indirekt hat Erdoğan den Aleviten vorgeworfen, nicht dem richtigen Islam anzugehören. Deshalb hat diese Videobotschaft von Kılıçdaroğlu im Wahlkampf sehr hohe Wellen geschlagen.

Marion Sendker, Türkei-Expertin

"Kılıçdaroğlu hat das Alevit-Sein zu einem Vorteil gemacht, indem er gesagt hat: Schluss mit der Identitätspolitik. Ich bin das, was ich bin. Aber das beeinflusst nicht meine Entscheidungen."

Er hat sinngemäß gesagt: Ich bin Alevit und es ist wichtig, dass wir unsere Identität auch ehren und schützen. Aber wir können uns nicht entscheiden, was wir sind oder was wir nicht sind. Was wir entscheiden können, ist, ob wir ein guter Mensch sind oder ein schlechter Mensch.

Das war die Kernbotschaft des Ganzen. Sie ist eingeschlagen wie eine Bombe und hat auch im sunnitischen Lager sehr viel Unterstützung bekommen.

Seit diesem Statement ist das Alevit-Sein für Kılıçdaroğlu kein Nachteil mehr, sondern er hat es im Gegenteil zu einem Vorteil gemacht, indem er gesagt hat: Schluss mit der Identitätspolitik. Ich bin das, was ich bin. Aber das beeinflusst nicht meine Entscheidungen.

DOMRADIO.DE: Das heißt, es war eigentlich ein kluger Schachzug, das so zu tun.

Sendker: Ja. Es war definitiv ein Risiko. Es hätte auch nach hinten losgehen können. Man hätte ihm auch vorwerfen können, dass er auf die Minderheiten-Karte setzt, dass er quasi die Opfermentalität bedienen möchte, was wenige Kritiker auch gemacht haben.

Aber Kılıçdaroğlu hat klar und deutlich formuliert: Ich bin Alevit. Aber das ist nicht alles, was ich bin. Ich entscheide ja selber, wie ich handele und was für ein Mensch ich sein möchte. Und genau das möchte ich von euch auch, meine lieben Mittürkinnen und Mittürken. So ungefähr hat er das formuliert.

Das kam einfach sehr gut an. Wie gesagt, selbst sunnitische Muslime haben sein Statement in den sozialen Medien gelobt und fanden es richtig gut.

Wahlen in der Türkei / © Tolga Ildun (dpa)
Wahlen in der Türkei / © Tolga Ildun ( dpa )

DOMRADIO.DE: Erdogan betont stets seinen tiefen Glauben. Er macht sogar Wahlkampf in einer der wichtigsten Moscheen in der Türkei. Könnte sich das auch zu einer Art Wettkampf entwickeln? Wer ist der Frommere von den beiden?

Sendker: Das hätte Erdogan vielleicht ganz gerne. Gerade Religion und Politik ist sein Metier. Er hat den politischen Islam der Türkei unglaublich geprägt. Aber das würde heutzutage nicht mehr funktionieren in der Türkei. Die meisten Menschen haben einfach keine Lust mehr auf dieses Schwarz-Weiß-Denken, das damit einhergeht.

Man ist es gewohnt, dass Religion zum Wahlkampf dazugehört, dass auch um Moscheen oder bei religiösen Veranstaltungen Wahlkampf gemacht wird. Am Wochenende hat Kılıçdaroğlu zum Beispiel seinen Auftritt in Istanbul kurz unterbrochen, als der Muezzin rief. Das hat er aus Respekt getan, aber auch, denke ich, um Erdogan keine weitere Angriffsfläche zu bieten, dass man ihm vorwerfen kann, er sei ein schlechter Muslim. 

Marion Sendker, Türkei-Expertin

"Laizismus in der Türkei bedeutet nicht nur Trennung von Politik und Religion, sondern auch Kontrolle des Staates über Religion. Und da möchte Kılıçdaroğlu auch mehr wieder hin."

Kılıçdaroğlu will schon als jemand dastehen, der das respektiert. Aber er steht auch ganz klar für den Laizismus und betont das auch immer wieder mit seiner Wahl-Allianz, zu der übrigens auch eine religiöse Partei gehört.

Laizismus in der Türkei bedeutet nicht nur Trennung von Politik und Religion, sondern auch Kontrolle des Staates über Religion. Da möchte Kılıçdaroğlu auch mehr wieder hin.

DOMRADIO.DE: Wie sieht denn die Situation für die anderen religiösen Minderheiten in der Türkei aus? Wie verhalten sich beispielsweise die Christen in diesem Wahlkampf und was für ein Wahlausgang wäre für sie besser?

Sendker: Soweit ich das sehe, verhalten sich die christlichen Gemeinden eher ruhig, was wahrscheinlich das Klügste ist. Religion ist in diesem Land hoch politisiert. Gerade christliche Gemeinschaften haben unter der Regierung von Erdogan und seiner Partei, der AKP, in den ersten Jahren zunächst eine Besserung erlebt. Es wurden sehr viele Kirchen und Klöster renoviert. Es gab ein neues Vereinsgesetz, das gerade manchen christlichen Gemeinden geholfen hat, sich sich unabhängiger zu organisieren und aufzustellen.

Das Ganze ist dann aber in den letzten Jahren auch etwas dahin umgekippt, dass Religion - und auch christliche Religion - zum Teil als politisches Druckmittel benutzt wurde. Gerade für die Orthodoxie ist das ein großes Thema. Das verschreckt viele christliche Gemeinden, sich politisch direkt und stark zu äußern.

Marion Sendker, Türkei-Expertin

"Allerdings wird Erdoğan seinen Stuhl nicht einfach so verlassen. Von daher bleibt es sehr, sehr spannend. Selbst wenn jetzt die Opposition gewinnt, muss man schauen, was das dann für das Land bedeutet."

Von daher hält man sich zurück. Man hofft einfach, dass es so weitergehen kann.

Ich habe aus den Gesprächen mit christlichen Gemeinden im Land herausgehört, dass die meisten vermuten, dass es mit einem Wechsel nicht schlechter werden kann. Im Gegenteil, sie hoffen, dass es sogar noch ein bisschen besser wird, nämlich dass die Religionsausübung wieder weniger mit Politik zu tun haben wird.

DOMRADIO.DE: Es sieht im Moment nach einem "Kopf an Kopf Rennen" aus, oder?

Sendker: Ja, es ist ein "Kopf an Kopf Rennen". Wenn es nur auf die Stimmabgabe ankommt, sagen die meisten großen Umfrageinstitute und Experten voraus, dass die Opposition gewinnen wird.

Allerdings wird Erdoğan seinen Stuhl nicht einfach so verlassen. Von daher bleibt es sehr spannend. Selbst wenn die Opposition gewinnt, muss man schauen, was das dann für das Land bedeutet.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.

Türkei-Wahl endet im Ausland - hohe Beteiligung in Deutschland

Für rund 3,4 Millionen Wahlberechtigte im Ausland endet an diesem Dienstag die Abstimmung für die Parlaments- und Präsidentschaftswahl in der Türkei. Unter den 1,5 Millionen Menschen in Deutschland mit türkischem Pass zeichnet sich eine hohe Wahlbeteiligung ab. Binnen elf Tagen - also zum Stand am vergangenen Sonntag - haben in Deutschland 642 000 Personen gewählt, berichtete Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien in Essen. Im Vergleich zur letzten Wahl 2018 bedeute das einen Zuwachs von gut 19 Prozent.

Wohin steuert die Türkei? / © Lukas Schulze (dpa)
Wohin steuert die Türkei? / © Lukas Schulze ( dpa )
Quelle:
DR