DOMRADIO.DE: Seinen Ursprung hat der Muttertag in den USA. Damals ging es nicht um Kommerz, sondern um Mütterrechte und Feminismus.
Désirée Waterstradt (Elternschaftsforscherin, Pädagogische Hochschule Karlsruhe): Ja, tatsächlich. Wenn wir heute 100 Jahre Muttertag feiern, dann ist das eigentlich nicht die wirkliche Feier. Denn die Ursprünge liegen tatsächlich in den 1860er Jahren, in der Frauen- und Mütterbewegung. Damals hat sich Ann Maria Reeves Jarvis sehr für Mütter engagiert, weil sie gesehen hat, dass Frauen zwar große Probleme hatten, Mütter aber noch viel größere.
Weil sie so engagiert war, hat ihre Tochter nach ihrem Tod 1905 dann im Jahr 1908 - also vor weit mehr als 100 Jahren - einen ersten Muttertag ins Leben gerufen. Der war nicht kommerzialisiert.
DOMRADIO.DE: Warum werden denn heute diese Wurzeln ignoriert?
Waterstradt: Das ist einfach eine Sache der Aufmerksamkeit. Dass die Aufmerksamkeit so stark auf dieser Kommerzialisierung, Entpolitisierung, Romantisierung, Emotionalisierung gelenkt wurde, hat im Prinzip die Schuldgefühle von allen genommen. Denn man muss sehen, dass damals eine Zeit war, in der unsere Gesellschaften Berufs-Gesellschaften und Geld-Gesellschaften geworden sind. Das Gesinde ist aus den Haushalten ausgeschieden und hat angefangen, gegen Geld zu arbeiten.
Es gab also praktisch keine unbezahlte Arbeit mehr außer der ehrenamtlichen. Die, die dann übrig blieben, waren die Mütter, die praktisch 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche ohne Bezahlung gearbeitet haben. Das verursacht gesellschaftlich ganz merkwürdige Schuldgefühle, ein schlechtes Gewissen.
Insofern hat sich dieser Muttertag herausgeprägt, der die eine Seite der Mutter, die sich selbst aufopfert, herausstellt. Es ist eigentlich ein vergifteter Ehrentag. Denn man blickt auf der anderen Seite auf Mütter herab, weil sie eben umsonst arbeiten.
Für junge Frauen ist dieses selbstaufopfernde Mütterbild überhaupt nicht positiv und für Männer in der Regel auch nicht. Es herrscht aufgrund dieser Selbstaufopferung, die im Mütterbild erwartet wird, eine Geringschätzung und ein verächtlicher Blick auf Mütter.
Da ist es natürlich sehr willkommen, wenn man so einen Muttertag hat, wo man das schlechte Gewissen für diesen verächtlichen Blick wegschieben kann.
Wir sehen das auch in unserer Gesellschaft - etwa darin, dass die ehemals mächtigste Frau in unserem Land von männlichen Kollegen ihrer Generation mal mit dem Schmäh-Begriff "Mutti" bedacht worden ist. Dieser Begriff, mit dem Angela Merkel versehen wurde, war überhaupt nicht positiv gedacht.
DOMRADIO.DE: Als der Muttertag nach Europa kam - zuerst nach Skandinavien, in die Schweiz und dann am 13. Mai 1923 zum Ersten Mal nach Deutschland - standen die kommerziellen Interessen schon im Vordergrund statt der feministischen Motive. Haben sich damals die Frauen dagegen gewehrt?
Waterstradt: Nein, in Deutschland nicht. Die beiden Töchter von Ann Marie Reeves Jarvis in den USA haben sich dagegen bis zum Tod gewehrt. Die Frauen hierzulande aber nicht. Man muss einfach auch sehen, dass in den Machtverhältnissen einer Gesellschaft Mütter eine sehr schwache Position haben. Das heißt, selbst wenn sie sich dagegen wehren wollten, sind sie einfach nicht in der Position, eine solche Entwicklung aufzuhalten.
Bis heute ist es so, dass Mütter da sehr zwiegespalten sind. Einerseits finden sie es nett, wenn das Kind mit einer Bastelei kommt. Andererseits wird damit genau das mundtot gemacht, was die Schattenseite von Mutterschaft ist, über die wir dringend weiter reden müssten. Genau das, was die amerikanische Frauen- und Mütterbewegung angestoßen hat und was auch hierzulande in der Frauen- und Mütterbewegung ein Thema war.
DOMRADIO.DE: Wie kann man denn den Muttertag zeitgemäß feiern oder brauchen wir ihn überhaupt noch? Denn aktuell wird auch die Idee der Umwidmung in einen Elterntag diskutiert.
Waterstradt: Das ist eine ganz spannende Idee. Vielleicht sollte man es als "Älterntag" mit "Ä" bezeichnen. Denn das deutsche Wort Eltern kommt vom Indogermanischen "al" für nähren, wachsen, machen. Das weist schon darauf hin, dass nicht nur die biologischen Eltern und schon gar nicht nur die Mutter sich um das Kind kümmern.
Wenn man weit zurück in die menschliche Geschichte blickt, sieht man, dass es seit 1,8 Millionen Jahren kooperative Nachwuchs-Aufzucht gibt. Das heißt, im Unterschied zu vielen anderen Säugetieren können Menschenmütter ihre Kinder nicht alleine aufziehen. Sie brauchen sozusagen ein kooperatives Netzwerk. Da ist oftmals die Oma mit drin, die Tante, der Ehemann oder Partner, der Onkel oder auch ältere Geschwister, natürlich auch die Hebamme, die Kita-Erzieherin, eine Lehrkraft und ganz viele andere Leute. Das sollte man, glaube ich, in einem neuen "Älterntag" feiern.
Man könnte sich beispielsweise angucken, wie unterschiedlich Kooperation bei uns Menschen und auch den Tieren funktionieren. Wie machen es die Elefanten, die Ameisen, die Bienen oder auch die Raben? Es ist zum Beispiel ganz absurd, dass die Raben als schlechte Eltern dargestellt werden. Die betreiben nämlich kooperative Nachwuchs-Aufzucht. Ich glaube, wir könnten viel von dieser Form der Elternschaft lernen.
DOMRADIO.DE: Was denken Sie, wohin wird diese Diskussion noch führen?
Waterstradt: Diese Dinge werden nicht von einzelnen Menschen entschieden, sondern das sind genau wie die Kommerzialisierung des Muttertags gesellschaftliche Entwicklungsprozesse. Wenn man das als Mutter gerne feiern möchte, kann man das ja mit seiner Familie weiter so beibehalten. Das ist möglich.
Aber die Frage ist, angesichts dieser wirklich sehr problematischen Entpolitisierung und Instrumentalisierung von Müttern, ob Mütter das wirklich wollen. Ich glaube, wir brauchen dringend Forschung dazu, die fragt, wie beliebt der Muttertag ist und was Mütter darüber denken.
Das Interview führte Dagmar Peters.