Das Interview ist ein Ausschnitt des gesamten Gesprächs.
Himmelklar: Als Pastoralreferentin sind Sie im Bistum Limburg unterwegs. Zum Beispiel in der Nähe des Klosters Eberbach gibt es die Wanderung von und mit Ihnen. Was erlebt man da?
Anke Jarzina (Diplom-Theologin, Pastoralreferentin im Bistum Limburg, Naturführerin und Pilgerbegleiterin): Ich gehe mit den Menschen gerne auf dem Klostersteig. Da erlebt man keine Feuerwerke, aber ich biete an, die Menschen zu begleiten, mit ihnen zu reden und ein seelsorgliches Gespräch zu führen. Wenn das gewünscht ist und wenn es passt, wende ich auch gerne Methoden aus dem Natur-Coaching an oder vom Waldbaden. Das kommt auch immer gut an.
Ich habe da mittlerweile so einen Fundus an Methoden. Von Bäume umarmen, über meditativ gehen und auf das achten, was die Natur einem gerade so schenkt, bis hin zu singen, das haben wir auch schon gemacht, ist da vieles möglich.
Himmelklar: Waldbaden oder die anderen spirituellen Formen, die Sie genannt haben: Wie oft werden Sie gefragt, ob oder was das mit Kirche zu tun hat?
Jarzina: Das kommt schon immer mal vor. Die meisten fragen nicht, was es denn mit Kirche zu tun hat, sondern die meisten sagen: Ach, wie toll, das hat mit Kirche zu tun, das darfst du machen! So ist eher die Blickrichtung.
Es gab auch schon mal kritische Stimmen, dass das nicht dem jesuanischen Auftrag der Kirche entspricht, ich sehe das aber komplett anders. Jesus war ja auch Wanderprediger und viel unterwegs. Ich fühle mich da in einer ganz guten Tradition, wenn ich mit den Leuten so rede, dass ich ihnen die Möglichkeit geben will, zu ihrer eigenen Wahrheit zu finden.
Ich gehe da nicht hin und sage, so ist das und so hat Gott das gewollt, sondern ich glaube, dass die Menschen selbst eine Deutungshoheit über sich haben und über das, was in ihnen steckt. Ich helfe dabei, das rauszufinden und Worte dafür zu finden.
Himmelklar: Auf der anderen Seite: Was hat das mit unserer Schöpfung zu tun, aus Ihrer christlichen Sicht und als Naturführerin?
Jarzina: Wir sind ja dann in der Schöpfung. Die Natur ist einfach ein wunderbarer Seelsorgeraum, in dem es eine große Freiheit fürs Denken und für die Weite gibt. Die Weite im Denken und im Fühlen zu spüren, das geht in der Natur, meine ich, besser als drinnen in einem Raum, wo man sich gegenübersitzt.
Natürlich ist es so, wenn ich in der Natur unterwegs bin und mir ganz bewusst Zeit nehme, in der Natur unterwegs zu sein, nehme ich die Schöpfung viel detaillierter, viel achtsamer und viel genauer wahr. Wenn ich mir zum Beispiel ein Blatt mal genau angucke und diese feinen Äderchen darauf sehe, dann kann das eigentlich nur zu Staunen führen. Vielleicht führt es auch – bei mir ist es jedenfalls so – zu diesem Glauben: Das kann kein Zufall sein, dass so etwas Tolles einfach so entstanden ist!
Und das ist ja nur ein kleiner Mikrokosmos, den ich mir da angucke. Wenn ich überlege, dass dahinter noch ein ganzes Universum ist, dass da ein Schöpfer steht, ist oft dieses Gefühl da, was sich auch während dieser Outdoor-Seelsorge einstellt.
Die Leute, die zu mir kommen, sind im Normalfall offen dafür und suchen vielleicht nach so einem Gefühl. Ich glaube, vielen ist dieser Bezug ein wenig abhanden gekommen zur Natur, zur Schöpfung und zu diesem Staunen darüber, dass wir überhaupt da sind. Das versuche ich zu vermitteln.
Himmelklar: Ihre persönliche Faszination hören wir schon raus. Sie bringen auf ganz besondere Weise die Angebote zu den Menschen. Dabei geht es um mehr als Gespräch, Pilgern und draußen Sein, Sie beziehen viel die Natur mit ein. Was ist Ihre Motivation dahinter?
Jarzina: Die Motivation ist einerseits die Begeisterung für die Natur von Kind auf. Wir sind immer viel draußen gewesen. Ich komme aus einem ganz kleinen Dorf im Rheingau-Taunus-Kreis, aus Espenschied. Das ist wunderschön gelegen, drum herum gibt es viele Wanderwege, da sind wir als Kinder schon immer entlang gegangen. Und ich bin damit aufgewachsen, dass wir Teil dieser Natur sind. Da war eine ganz selbstverständliche Nähe zur Natur. Daher ist mir eine Begeisterung dafür schon in die Wiege gelegt, glaube ich.
Andererseits das zu meinem Beruf zu machen oder zu einem ganz wichtigen Teil meines Berufs, das ist erst durch eine Krise in meinem Leben passiert: Im Herbst 2021 hatte ich nämlich einen Hörsturz. Ich hatte eine lange Krankheitsphase und im Laufe dieser Krankheitsphase bin ich viel draußen spazieren gewesen. Da kam immer wieder der Gedanke, dass ich hier in die Natur muss, ich muss draußen sein. Das war ein ganz klares Gefühl: Hier bin ich richtig.
Erst dachte ich, ich könnte meinen Beruf nicht mehr ausüben. Das war auch eine schmerzhafte und eine orientierungslose Zeit, weil ich wirklich dachte: Was mache ich denn jetzt? Muss ich umschulen auf Forstwirtschaftlerin oder Försterin oder so etwas? Ich habe in die Richtung gesucht und mir Informationsmaterial bestellt, bin dann aber auch auf solche Begriffe gestoßen wie "Natur-Coaching" und psychologische Begleitung in der Natur oder einen Buchtitel "Arbeitsraum Natur".
So hat sich das nach und nach entwickelt, dass irgendwann doch die Idee kam, als es um die Wiedereingliederung ging, dass ich das, was ich in der pastoralen Praxis gelernt habe, auch in der Natur machen kann und dass es das ist, was ich aus gesundheitlichen Gründen machen muss.
So wie ich meinen Beruf vorher ausgeübt habe, das war dann irgendwann klar, geht das nicht mehr, das kann ich nicht mehr. Und das will ich auch nicht mehr, weil mir das zu riskant ist, einen neuen Hörsturz zu bekommen – und vielleicht noch einen Tinnitus. Der ist seitdem nämlich mein dauerhafter Begleiter.
Himmelklar: Krisen, Trauer und was uns sonst noch alles im Alltag beschäftigt – und immer mehr wird: Was bedeutet denn Seelsorge heute?
Jarzina: Ich glaube, Seelsorge bedeutet, mit den Menschen mitgehen. Auch wenn sich das platt anhört, aber die Vereinzelung und Individualisierung in unserer Gesellschaft ist, glaube ich, etwas, das viele Menschen einsam werden lässt, worüber zum Beispiel Social Media vielleicht hinwegtäuschen.
Ich pauschalisiere jetzt etwas, aber da muss ich ja doch so tun, als wäre alles super. Wenn ich mit jemandem durch den Wald gehe, der an das Seelsorgegeheimnis gebunden ist und auch einen vertrauenswürdigen Eindruck macht, erzähle ich dem ganz andere Dinge, die ich nach außen sonst nicht loswerde.
Es geht darum, sich anvertrauen zu können, auch ohne Verpflichtungen, also ich frage die Leute jetzt nicht, ob sie gleich katholisch werden wollen. Es geht nur darum, mit den Leuten ein Stück mitzugehen, vielleicht auch mehrere Stücke. Ich hatte auch schon Leute, die sich ein zweites oder drittes Mal gemeldet haben. Dann haben wir den Weg fortgesetzt. Das ist aber keine Bedingung, sondern es geht immer nur darum, ein Stück mitzugehen und zu gucken: Was ist denn gerade in deinem Leben los? Wo stehst du gerade? Wie kann ich dir helfen, beistehen und versuchen, mit dir zusammen zu entdecken, was deine Seele – deshalb Seelsorge – eigentlich braucht.
Oftmals, das habe ich ja selbst erlebt, äußert die Seele über den Körper, was sie braucht. Das war für mich in meiner eigenen Geschichte so ein wahnsinniges Aha-Erlebnis, wo ich immer noch verblüfft bin, was mir meine Seele da so gesagt hat.
Natürlich bin ich aus der eigenen Erfahrung heraus jemand, der beim Mitgehen auch Menschen helfen kann, zu sagen: Guckt da mal genauer hin, das könnte was bedeuten. Wenn Menschen dann ihre eigene Wahrheit finden und das, was meiner Meinung nach Gott in sie gelegt hat, – das sage ich aber nicht so, sondern das dürfen Menschen selber erkennen, wenn sie das wollen, – das ist ein ganz schöner Moment. Wenn dieser Funke überspringt. Wenn klar wird: Ja, Mensch, das könnte ja sein, das könnte jetzt vielleicht auch der nächste Schritt für mich sein, ich denke mal weiter in die Richtung … Wie gesagt, an dem Punkt kann der gemeinsame Weg zu Ende sein. Dann geht er für die Person vielleicht alleine weiter oder wir gehen ein andermal noch ein Stück weiter.
Himmelklar: Für wie viel Seelsorge ist denn als Pastoralreferentin Zeit?
Jarzina: Als Pastoralreferentin, so wie ich vorher Pastoralreferentin war, auch mit knapp einer halben Stelle, weil ich noch Kinder zu Hause habe, hatte ich für Seelsorge in dem Sinn nicht viel Zeit.
Tatsächlich hat sich vieles geändert, einfach durch die Umstrukturierung in den Pfarreien. Mein Rollenbild, mein Berufsbild hat sich geändert. Ich habe mir ja auch selber andere Schwerpunkte gelegt oder habe sie in den letzten Jahren immer mal wieder verlagert. Ich war zuletzt immer für Kirchenentwicklung zuständig, habe mich also auch kirchenpolitisch engagiert und habe immer geguckt, was man denn mal Neues ausprobieren kann.
Da geht es darum, Mitstreiter zu finden, gemeinsam zu schauen, was man Tolles machen kann und dann etwas auf die Beine zu stellen. Das ist auch schön und das ist auch wichtig und das macht Spaß, aber das ist nicht Seelsorge, wie sie, meine ich, im Ursprungssinn gemeint ist.
Das Tolle jetzt ist, dass ich wirklich wieder Seelsorgerin sein kann, aber trotzdem das eine oder andere kleine Projekt auf die Beine stellen kann. Das ist eine super Mischung. Mir sagte sogar mal ein Kollege, als ich ihm das erzählt habe, dass er den Eindruck hat, dass ich meine Berufung wiedergefunden habe. Das fand ich ganz passend, weil es genauso ist.
Es ist wirklich so, dass ich diese Seelsorge total vermisst habe in den letzten Jahren, was aber für mich nicht greifbar war. Erst durch die Krise kam, dass ich gemerkt habe, wo eigentlich die Leerstelle ist. Ich habe gemerkt, wenn ich dann bei meinen Wanderungen allein durch die Wälder darüber nachgedacht habe, wie das wohl wäre, wenn ich jetzt hier mit jemandem unterwegs wäre – da hat sich mein Herz so geweitet. Da wusste ich: Okay, das muss es wohl sein. In die Richtung geht es. Das hat sich bis heute auch noch nicht geändert, diese Weite im Herzen.
Himmelklar: Sie haben in diesen Gesprächen meistens mit ziemlich vielen schweren Themen zu tun, wenn jemand sich an Sie wendet. Wie kommen Sie damit persönlich klar? Wie gehen Sie selbst damit um?
Jarzina: Das ist manchmal nicht leicht, das stimmt. Wenn da Menschen wirklich leiden an Situationen, geht mir das auch noch nach. Ich bin ein bisschen hochsensibel und fühle mit, wenn Menschen leiden – natürlich auch, wenn sie sich freuen. Ich trage daran schon eine Zeit lang mit, versuche es aber mehr oder weniger der Natur zu überlassen. Das hört sich jetzt ein bisschen esoterisch an. Ich habe aber den Eindruck, wenn wir so eine Naturzeit beenden, das tun wir auch meistens ganz bewusst noch mal mit einer kleinen Geste oder einem kleinen Spruch, dann ist diese Naturzeit beendet und dann bleibt das, was da an schweren Themen war, im Wald liegen. Es darf da auch liegen und darf da auch weiter in diesen Kreislauf der Natur eingehen. So muss ich das nicht tragen.
Das ist mein Bild, das für mich ganz hilfreich ist. Und natürlich weiß ich, dass alle Menschen bei Gott aufgehoben sind. Das glaube ich ganz fest. Meine Oma würde wahrscheinlich sagen, dass ich für die Menschen bete. Ich habe für mich eher dieses Bild der Naturverbundenheit, dass ich glaube, dass wir alle verbunden sind. Wenn ich da ein Stück mitgehen kann, dann hilft das den Menschen auch schon, ihres zu tragen. Das wiederum hilft mir, mir das nicht selber aufzuladen.
Himmelklar: Was bringt Ihnen Hoffnung?
Jarzina: Bei Hoffnung denke ich als erstes an meine Kinder. Da wir ja hier aber über die Natur reden, und davon sind meine Kinder natürlich auch ein Teil, glaube ich, ist das, was für mich wirklich ein ganz einfaches, aber zugleich halt auch ganz starkes Symbol ist: Die Natur in ihrem Werden und Vergehen und in ihrem Neuwerden.
Ich habe im Herbst mit dieser Outdoor-Seelsorge angefangen und bin deshalb auch mit den ersten Leuten im Herbst und Winter unterwegs gewesen, wo alles grau und matschig und vor allem kahl war. Dazu haben manchmal die Themen sehr gut gepasst und es war gar nicht so leicht, die Botschaft vom Frühling und von der Hoffnung auf den Frühling zu vermitteln. Wenn ich dann aber im Frühling tatsächlich wieder durch die Wälder gehe und sehe, dass die Blüten doch gekommen sind und dass die grünen saftigen Blätter jetzt da sind, so kahl und tot es auch im Winter aussah, ist das für mich eigentlich jedes Mal wieder ein Hoffnungszeichen.
Ich denke, das funktioniert mit der Natur so, die vergeht und wird wieder neu und steht dann wieder in der Blüte ihres Lebens. Dann stirbt sie, dann wird sie wieder tot, dann wird sie wieder neu. Wenn dieser ewige Kreislauf auch auf uns zutrifft, weil wir Teil der Natur sind, dann ist es ganz natürlich, dass wir nach unserem Tod, nach unserem Vergehen auch wieder neu werden. Auf eine Art und Weise, die wir uns nicht vorstellen können, aber die sein wird, weil wir Teil dieses Ganzen sind. Das gibt mir Hoffnung.
Das Interview führte Katharina Geiger.