Misereor ordnet Russlands Ausstieg aus Getreide-Deal ein

"Ein sehr gezieltes Spiel"

Russlands Ausstieg aus dem Getreideabkommen hat für große Empörung gesorgt. Die EU befürchtet eine weltweite Ernährungskrise. Noch aber sind die Weizenpreise stabil. Lutz Depenbusch von Misereor mahnt dennoch zur Vorsicht.

Symbolbild Getreidesäcke / © Prostock-studio (shutterstock)
Symbolbild Getreidesäcke / © Prostock-studio ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Vor allem Nordafrika und der Nahe Osten sind auf Getreidelieferungen aus der Ukraine angewiesen. Warum spielt Russlands Entscheidung dennoch so eine große Rolle für die ganze Weltregion?

Lutz Depenbusch (Referent für Landwirtschaft und Ernährung bei Bischöflichen Hilfswerk Misereor): Das hat vor allem damit zu tun, dass es die internationalen Preise beeinflusst. Das Problem ist nicht, dass es nicht genug Getreide auf internationalen Märkten gibt, sondern dass die Schließung der Märkte die Preise in die Höhe treiben kann, wenn zum Beispiel kein Weizen mehr aus der Ukraine herauskommen würde.

Das sehen wir bis jetzt aber gar nicht, von daher muss man sehr vorsichtig bewerten, was das letztendlich heißt.

DOMRADIO.DE: Die weltweiten Lebensmittelpreise waren auch vor dem Ukraine-Krieg ohnehin auf einem sehr hohen Niveau. Warum?

Lutz Depenbusch

"Wir haben es mit einem Inflationsproblem zu tun"

Depenbusch: Das ist recht komplex. Einerseits sind die Weltmarktpreise für Weizen, aber auch andere Lebensmittel wieder deutlich gefallen, seitdem sie im April letzten Jahres auf Rekordniveau waren. Aber nicht nur die Lebensmittelpreise, sondern auch viele andere Preise, sind auf der anderen Seite angestiegen.

Wir haben es mit einem Inflationsproblem zu tun. Und das ist eigentlich gerade viel drückender.

DOMRADIO.DE: Es gibt erste Stimmen in Russland, die sagen, man müsse theoretisch auch bereit sein, Frachtschiffe mit Getreide zu bombardieren, wenn dieses Abkommen einseitig aufgekündigt wird. Da ist man indirekt beim Thema der Kriegsführung durch Hunger. Wie bewerten Sie das?

Getreidelieferungen aus der Ukraine sind wichtig für die Stabilisierung der Lebensmittelpreise weltweit / © Emrah Gure (dpa)
Getreidelieferungen aus der Ukraine sind wichtig für die Stabilisierung der Lebensmittelpreise weltweit / © Emrah Gure ( dpa )

Depenbusch: Das ist natürlich ein Verbrechen, letztendlich auch gegen die Menschenrechte der Menschen, die von diesen Nahrungsmitteln-Exporten abhängig sind. Das ist ein sehr gezieltes Spiel.

Gleichzeitig profitiert Russland als größter Weizen-Exporteur von den sehr hohen Weizenpreisen. Von daher ist es doppelt schwierig zu betrachten.

DOMRADIO.DE: Sie sehen dennoch keine Gefahr der Eskalation?

Depenbusch: Genau, ich würde es momentan erst mal nicht so dramatisch sehen. Man muss sich bewusst machen, dass die Exporte aus der Ukraine Teil des Weltmarktes sind. Diese Exporte funktionieren nicht besser als die anderen Lebensmittel-Exporte. Sie gehen erst mal an die Länder, die dafür bezahlen können. Darin liegt das Hauptproblem.

Die Exporte aus der Ukraine sind schon wichtig, aber man darf sie auch nicht überbewerten. Man muss viel mehr gucken, wo gehen diese Lebensmittel eigentlich hin und wo können wir etwas tun, damit mehr Lebensmittel an die Menschen gehen, die sie wirklich brauchen?

DOMRADIO.DE: Bräuchte es da mehr Engagement von der Weltgemeinschaft für eine gerechte Verteilung von Nahrungsmitteln, damit die Versorgung weniger vom internationalen Preisniveau abhängt und durch solche Konflikte ins Wanken geraten kann?

Lutz Depenbusch

"Es ist kein Zustand, dass das Menschenrecht auf Nahrung davon abhängt, wie viel Geld man hat."

Depenbusch: Auf jeden Fall. Das ist ja gerade das Problem. In der vergangenen Woche ist der Welternährungs-Report veröffentlicht worden. Darin sehen wir, dass aufgrund der gestiegenen Kosten für Lebensmittel keine Besserung bei der Zahl der Hungernden verzeichnet wurde. 3,1 Milliarden Menschen weltweit, also rund 40 Prozent der Welt, können sich gerade keine gesunde Ernährung leisten.

Es ist kein Zustand, dass das Menschenrecht auf Nahrung davon abhängt, wie viel Geld man hat. Leider ist es derzeit aber immer noch so.

DOMRADIO.DE: Was könnte dagegen unternommen werden?

Depenbusch: Der Schuldenstand vieler Länder ist auf Rekordniveau und gleichzeitig sind durch die hohen Preise auch die Import-Kosten für Lebensmittel auf Rekordniveau. Der erste praktische Schritt wäre also, dass man etwas gegen die Überschuldung tut.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Schwarzmeer-Getreide-Initiative

Russland will die Schwarzmeer-Getreide-Initiative vorerst nicht verlängern. Das knapp ein Jahr alte Abkommen ermöglichte die sichere Verschiffung von Agrargütern aus der Ukraine über das Schwarze Meer. Mit der Entscheidung Russlands läuft das Abkommen am Montagabend aus.

Getreide reift auf einem Feld / © Arne Dedert (dpa)
Getreide reift auf einem Feld / © Arne Dedert ( dpa )
Quelle:
DR