DOMRADIO.DE: Was war das für ein Gefühl, als Bruder Alois Sie gefragt hat, ob Sie neuer Prior der Gemeinschaft von Taizé werden möchten?
Bruder Matthew: Zuerst war ich erstaunt, das hatte nicht erwartet. Und ich habe zuerst gezögert, habe mich gefragt: „Warum ich?“ Wir sind zerbrechlich als Menschen und staunen oft über die Wege Gottes. Aber dann habe ich mit Alois gesprochen und verstanden, dass ich "ja" sagen kann.
DOMRADIO.DE: Sie haben also "ja" gesagt und übernehmen mit dem neuen Kirchenjahr das neue Amt. Worauf freuen Sie sich besonders?
Bruder Matthew: Ich freue mich, weil ich meine Brüder und meine Gemeinschaft sehr liebe. Und ich spüre, dass wir zusammen vorangehen können. Natürlich ist auch in unserer Gemeinschaft vieles nicht vollkommen, wir haben als Gemeinschaft Fehler gemacht. Aber wir haben verstanden, dass wir es nur miteinander und mit der Hilfe Gottes schaffen. Die Frage ist: Sind wir bereit, einander zu unterstützen und zu hören, was der Geist uns heute sagt?
DOMRADIO.DE: Speziell die katholische Kirche, aber auch andere kirchliche, christliche Gemeinschaften stecken tief in der Krise. Taizé war dabei immer so etwas wie ein alternativer Ort für junge Leute. Wo sehen Sie die Rolle Ihrer Gemeinschaft vor diesem Hintergrund?
Bruder Matthew: Ich glaube, wir haben von Anfang an Leuten einen Raum gegeben - Jugendlichen, aber auch Älteren – an den sie kommen können, sich treffen und das Verlangen nach Gott erkennen, das schließlich in jedem Mensch steckt. Durch das Gebet, durch die Gemeinschaft konnten sie entdecken, dass Gott gegenwärtig ist, dass Gott da ist. Natürlich stehen die verschiedenen Kirchen vor großen Herausforderungen; aber das war eigentlich schon immer so. Und sollen wir da ständig über die Krise sprechen oder nicht doch lieber über neue Möglichkeiten? Sind wir bereit, den Jugendlichen und dem Volk Gottes zuzuhören? Das ist die große Herausforderung! In der römisch-katholischen Kirche steht die Weltsynode an, und gerade in Deutschland ist das eine besondere Situation. Aber ich habe wirklich den Eindruck, dass wir an einem Wendepunkt stehen, dass etwas neu aufbricht, nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch bei den anderen. Mit Alois war ich bei gerade beim Erzbischof von Canterbury, auch er und viele in der der anglikanischen Kirche sind auf der Suche. Genauso stellt sich bei den Orthodoxen die Frage, wie es vorangehen kann, wo sie doch so viel Ärger untereinander haben wegen der Krise in der Ukraine. Die zentrale Frage für alle ist aber doch: Was heißt es heute, Zeugnis des Evangeliums zu geben.
DOMRADIO.DE: Sie haben in Taizé während der Pandemie der Erfahrung machen müssen, dass plötzlich niemand mehr kommen konnte. Wie hat sich das seitdem entwickelt, kommen die jungen Leute zurück?
Bruder Matthew: Wir freuen uns, dass die Jugendlichen zahlreich nach Taizé zurückkehren. In diesem Jahr haben wir die besondere Situation, dass jetzt der Weltjugendtag in Lissabon ansteht und in der katholischen Kirche vieles darauf ausgerichtet ist. Aber wir erleben eben auch mit großer Freude, wie viele Gruppen sich organisieren, um endlich wieder nach Taizé zu kommen. Manches ist noch immer schwierig. Ich war zum Beispiel gerade in Rom, um das Ökumenische Abendgebet (https://together2023.net/de/home-german/) vor der Weltysynode vorzubereiten und habe gesehen, was für tiefe Wunden die Pandemie in Italien geschlagen hat. Leute haben noch immer Angst, andere zu empfangen. Wahrscheinlich halten solche Ängste auch noch immer den ein oder anderen ab, nach Taizé zu kommen. Für uns als Gemeinschaft war die Corona-Zeit eine sehr besondere Zeit. Ich glaube, wir haben unsere brüderlichen Beziehungen während der Pandemie stärken können, das war sehr speziell.
DOMRADIO.DE: Bruder Alois sagt, dass die Gemeinschaft von Taizé mehr Struktur braucht, um den Aufgaben der Zeit besser gerecht zu werden und dass das eine Ihrer ersten Aufgaben sein wird...
Bruder Matthew: Ja, das ist wahr. Wir wollen zwar weiter wie eine Familie zusammenleben und uns nicht zu viel Struktur auferlegen. Aber wir müssen auf jeden Fall darüber reden, wie wir mehr Transparenz schaffen. Wir müssen überlegen, wie wir als Gemeinschaft leben, wie wir zum Beispiel Beschlüsse fassen. Was bedeutet das für jeden Einzelnen, wenn er Mitverantwortung bekommt? Wie schaffen wir mehr Kollegialität, wie treffen und tragen wir Entscheidungen gemeinsam?
DOMRADIO.DE: Haben Sie da konkrete Ideen, wie das aussehen könnte?
Bruder Matthew: Bruder Alois hat schon den Weg geöffnet; es gibt bereits verschiedene Gruppen von Brüdern, die sich treffen, zusammen überlegen und dann ihre Ideen beim Prior vor- und mittragen. Das müssen wir jetzt verstärken und dabei wirklich alle Brüder einbeziehen. Es ist sehr wichtig, dass alle den Eindruck haben: ‚Meine Meinung zählt.‘.
DOMRADIO.DE: Frère Roger war Protestant, Bruder Alois ist katholisch. Sie sind Anglikaner. Welche Rolle spielt das?
Bruder Matthew: Wir vertrauen hier alle darauf, dass wir im Glauben eins sind. Jeder unserer Brüder hat seine Berufung empfangen im Zeichen der Einheit und der Versöhnung. Frère Roger hat oft über dieses Gleichnis der Gemeinschaft gesprochen. Das macht das Herz unserer Gemeinschaft aus. Gleichzeitig ist jeder dankbar für seine jeweilige Mutterkirche. Wir alle tragen etwas von dem, was wir in unseren jeweiligen Kirchen erlebt haben, mit uns und in die Gemeinschaft. Für Frère Roger ging es immer darum, seinen reformierten Glauben mit dem Glauben der ganzen Kirche zu versöhnen. Das ist der Weg für uns alle.
DOMRADIO.DE: Könnte Taizé da nicht heute vielleicht mehr denn je auch Modellcharakter haben?
Bruder Matthew: Oh, Taizé ist kein Modell! Aber wir sind auf dem Weg, wir sind immer auf dem Weg, es gibt immer etwas Neues zu lernen. Wir wollen, dass der Heilige Geist uns inspiriert auf diesen Weg. Die Einheit der Christen, eine versöhnte Menschenfamilie – das ist immer unser Ziel. Taizé ist also kein Modell, aber wir geben vielleicht Zeichen. Wir wollen dabei aber immer den Blick auf Christus richten, nicht auf Taizé!
DOMRADIO.DE: Was liegt Ihnen persönlich am meisten am Herzen, wenn Sie Prior werden?
Bruder Matthew: Das Zuhören. Ganz einfach zuzuhören. Ich will den Brüdern der Gemeinschaft zuhören, ich will den Jugendlichen zuhören. Ich glaube, in der Gesellschaft heute ist Zuhören etwas immens Wichtiges. Wir hören einander nicht mehr zu. Jeder hat seine Position - vielleicht mit guten Meinungen. Aber wir wollen sie anderen aufdrücken. Die Frage wäre dagegen, wie anderen wirklich zuhören können. Und darin vielleicht etwas ganz Unerwartetes, ein Geschenk Gottes zu entdecken. Das ist für mich das Wichtigste. In der Regel des Heiligen Benedikt sind das die ersten Worte genauso wie im Alten Testament, wo es heißt „Höre, Israel!“. Das ist doch das Herz unseres Glaubens.
DOMRADIO.DE: In der katholischen Kirche geht es aktuell viel um die Rolle der Frauen. Wie sieht das eigentlich in Taizé aus? Wollen Sie sich nicht auch langsam mal Schwestern ins Boot holen?
Bruder Matthew: Das ist eine sehr wichtige Frage! Ich komme aus der anglikanischen Kirche und muss ganz ehrlich sagen, dass ich skeptisch auf die ersten Weihen von Frauen dort geschaut habe. Meine erste Begegnung mit einer Priesterin war dann auf der Beerdigung meiner Großmutter. Und ich habe das als etwas sehr Schönes erlebt und gedacht: „Ja, der Heilige Geist ist da!“ Hier in Taizé haben wir seit über 50 Jahren Schwestern, allerdings Schwestern einer anderen Gemeinschaft. Wir arbeiten sehr gut mit ihnen zusammen. Dass sie keine Schwestern von Taizé sind, gibt ihnen eine gewisse Unabhängigkeit. Dass jede Gemeinschaft ihre Identität hat, ermöglicht eine besondere Zusammenarbeit. Andererseits hat mich das Treffen mit Leuten einer anderen Gemeinschaft sehr beeindruckt, die heute Brüder und Schwestern haben. Ursprünglich waren auch sie eine reine Männergemeinschaft und hatten nie darüber nachgedacht, Schwestern aufzunehmen. Aber dann ist eine Frau gekommen und sie haben sich gefragt: „Könnte es vielleicht mit dieser Frau gehen?“ Wir müssen hier in Taizé wohl unser Herz für diese Frage offenlassen und aufmerksam sein. Es hängt nicht von uns ab, sondern es hängt von den Personen ab, die die Frage stellen.
DOMRADIO.DE: Aber ich habe richtig verstanden, dass Sie sagen „Frauen als Priesterinnen habe ich selbst erlebt und wenn der Heilige Geist im Spiel ist, dann ist das gut und richtig!“?
Bruder Matthew: Ich glaube, das ist eine Entscheidung für jede einzelne Kirche. In der anglikanischen Kirche haben sie diese Entscheidung so getroffen. Für die katholische Kirche ist es eine innerkatholische Frage. Wir müssen alle zusammen gehen. Was sagt der Geist dazu?
Das Interview führte Hilde Regeniter