DOMRADIO.DE: Wo auf der Welt spielt dieser Hexenwahn denn heute überhaupt noch eine Rolle?
Jörg Nowak (Stellvertretender Pressesprecher des katholischen Hilfswerks missio): Wir haben anlässlich des Internationalen Tages gegen Hexenwahn 2023 unsere Weltkarte noch einmal aktualisiert und recherchiert, über wie viele Länder wir da eigentlich genau reden.
Insgesamt sind es 44 Länder weltweit, in denen Menschenrechtsverletzungen in Verbindung mit Aberglauben und Hass verübt werden; wo Männer, Frauen und Kinder als sogenannte Hexen stigmatisiert werden.
DOMRADIO.DE: Was müssen Betroffene erleiden?
Nowak: Betroffene werden erst einmal von der Gesellschaft verstoßen; die Leute zeigen mit dem Finger auf sie und streuen erste Gerüchte. So wie ich es zum Beispiel einmal in Papua-Neuguinea erlebt habe, wo eine Frau grundlos für den Tod eines Dorfbewohners verantwortlich gemacht wurde. Sie wurde zunächst isoliert und stigmatisiert, indem die Leute ihr die Schuld für den Tod gaben.
In so einem Fall kann es schnell passieren, dass die Frau abgeholt und vor versammelter Dorfgemeinschaft gefesselt und womöglich sogar gefoltert wird. "Gestehe, dass du eine Hexe bist!", heißt es dann, "du kannst bösen Zauber über uns alle ausüben!" Wir reden hier von grausamsten Menschenrechtsverletzungen – bis hin zu Folter und Tod.
DOMRADIO.DE: Sie waren vor kurzem in Westafrika und haben sich in Benin angeschaut, wie dort kirchliche Arbeit gegen Hexenwahn aussieht. Wie verbreitet ist der Glaube an Hexen denn in der Region?
Nowak: In Benin wütet der Hexenwahn speziell im Norden des Landes. Und während in anderen Staaten meist Frauen ins Visier der Täter geraten, sind es in Benin Kinder und Neugeborene. Bei kleinsten Abweichungen von der Norm wird es gefährlich für sie. Das kann beispielsweise eine Frühgeburt im achten Monat sein, denn in Benin ist nicht die 13, sondern die acht eine Unglückszahl.
Wird ein Kind also im achten Monat geboren, gilt das als böses Omen. Genauso ist es, wenn die oberen Vorderzähne vor den unteren wachsen oder andere Kleinigkeiten in der Entwicklung auch nur etwas anders ablaufen als gewöhnlich. Speziell im Norden glauben dann viele, dass das Kind eine Hexe ist und dem ganzen Dorf schaden wird. Dagegen wollen sie etwas tun.
DOMRADIO.DE: In Benin unterstützt missio deshalb ein Projekt der Franziskaner, ein Netzwerk gegen Hexenwahn. Wie funktioniert das?
Nowak: Es ist interessant, dass die katholische Kirche, dass speziell ein Ordensmann, diesen Kampf gegen den Hexenwahn schon vor rund 50 Jahren aufgenommen hat. Nachdem er mitbekommen hatte, dass in seinem Dorf ein neugeborenes Kind abgeholt und getötet worden war. Das hat damals viele Christen, viele Katholiken aufgewühlt.
Aus diesen Anfängen hat sich längst ein Netzwerk von rund 100 Freiwilligen entwickelt, das heute vom Franziskanerpater Auguste geleitet wird. Sie gehen in die Dörfer und haben eine Art Frühwarnsystem aufgebaut. Wenn es irgendwelche Hinweise gibt, dass ein Neugeborenes verstoßen werden könnte, reagieren sie sofort. Wenn etwa die Hebamme das Gerücht verbreitet, mit dem Kind stimme etwas nicht, intervenieren sie. Die Leute vom Netzwerk haben längst auch Hebammen ins Boot geholt, die in Problemfällen schon mal ein wenig tricksen. Eine Ordensschwester in Benin etwa hat mir erzählt, dass sie das Geburtsdatum nachbearbeitet, wenn das Kind im achten Monat geboren ist: Die Unglückszahl acht korrigiert sie dann zu sieben oder neun und schon ist das Kind auch außer Gefahr.
Bei einem Treffen der etwa 100 Freiwilligen des Netzwerks habe ich außerdem einen Mann getroffen, dessen Vater ein sogenannter 'Bourreaux' war, also einer der Peiniger, die die Hexenmorde verüben. Dieser Mann hat offenbar immer wieder mit seinem Vater über die Verbrechen gestritten. Dass er heute am Programm teilnimmt, um gefährdete Kinder zu retten, zeigt deutlich, welcher Wandel sich in Benin bereits vollzogen hat. Viele Menschen akzeptieren den Hexenwahn nicht länger, kämpfen aktiv gegen diese Form der Menschenrechtsverletzung. Das Projekt der Franziskaner ist also sehr erfolgreich.
DOMRADIO.DE: Greifbare Ergebnisse zeigen, wie sehr sich das kirchliche Engagement gegen Hexenwahn in Benin lohnt. Gibt es Belege?
Nowak: Tatsächlich hat unser Projektpartner Père Auguste eine ganze Reihe von Studien zum Thema erstellt und verglichen, wie sich die Zahl der Betroffenen im Vergleich zu früher entwickelt hat, zum Beispiel auch, wie viele Todesopfer es gab. So hat er recherchiert, dass in der Vergangenheit jedes zehnte Kind dem Hexenwahn zum Opfer fiel und sogar getötet wurde.
Heute ist diese Zahl der Betroffenen auf ein bis zwei Prozent gesunken. Erste Dörfer verzeichnen überhaupt keine Fälle mehr. Das ist ein Riesenerfolg. Da werden Kinderleben, da werden Menschenleben gerettet. Deswegen ist auch die Unterstützung so wichtig, die missio für dieses Projekt von den Sternsingern bekommt: weil wir diese Kinder wirklich retten können.
DOMRADIO.DE: Welche Botschaft hat missio zum Welttag gegen Hexenwahn heute – am 10. August 2023?
Nowak: Auch wir hier in Deutschland haben doch alle irgendeine Verbindung zum Hexenwahn. Ich glaube, dass das ein Thema ist, was uns alle berührt. Daher sollten wir solidarisch sein, wir sollten uns bewusst machen, dass es in so vielen Ländern noch immer diese Form von Verbrechen gibt.
Dafür können wir alle einen kleinen Beitrag leisten. Benin ist das beste Beispiel, was schon eine kleine Unterstützung bewirken kann.
Das Interview führte Hilde Regeniter.