Experte kritisiert EU im Konflikt um Bergkarabach

"Es herrscht Hoffnungslosigkeit"

Nach der Militäroffensive Aserbaidschans befürchten die Menschen in Bergkarabach, von dort vertrieben zu werden. Der armenische Germanist Hrayr Baghramyan hat wenig Hoffnung für die Bevölkerung. Der Westen habe zu spät reagiert.

Konflikt in Bergkarabach / © Celestino Arce Lavin (dpa)
Konflikt in Bergkarabach / © Celestino Arce Lavin ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie sind aktuell in Armenien. Wie erleben Sie denn die Situation in Ihrem Land? Wie gehen die Menschen mit der Eskalation der Lage in Bergkarabach um?

Dr. Hrayr Baghramyan (privat)
Dr. Hrayr Baghramyan / ( privat )

Dr. Hrayr Baghramyan (Reiseleiter, Germanist und regelmäßiger Referent für die Thomas-Morus-Akademie in Bensberg): Die Menschen in Armenien sind momentan frustriert und sehr traurig, weil wir den Menschen in Bergkarabach leider nicht direkt helfen können. Wir sehen, was da passiert. Wir hören auch tagtäglich, dass die Leute dort leiden. Seit neun Monaten ist die Hauptzufahrtstraße blockiert.

Am 19. September begann Aserbaidschan eine großangelegte Militäroffensive. Dabei sind mittlerweile hunderte Menschen gestorben. Viele sind verletzt worden, viele hungern. Leider kann Armenien diesen Menschen keine direkte Hilfe leisten. Deshalb herrscht Hoffnungslosigkeit im Land und die Menschen befinden sich in einem Alarmzustand.

DOMRADIO.DE: Es hat auch durchaus Proteste gegen die Regierung in Armenien gegeben. Warum sind denn die Menschen mit ihr unzufrieden?

Baghramyan: Sie sind zum Teil unzufrieden, weil die Regierung den Menschen in Bergkarabach keine direkte Hilfe geleistet hat. Das Problem ist, dass es nur zwei Optionen gibt: Politisch Druck auf Aserbaidschan auszuüben, was Armenien mit westlichen Partnern auch versucht. Aber Aserbaidschan ignoriert jegliche Appelle der internationalen Gemeinschaft.

Die zweite Option wäre militärisch, das kann Armenien aber nicht leisten. Entlang der armenischen Grenze hat Aserbaidschan Truppen in großer Konzentration stationiert. Und hinter Aserbaidschan steht die Türkei. Der türkische Präsident Erdogan hat die große Militäroffensive in Bergkarabach sogar begrüßt.

Deshalb muss Armenien sehr vorsichtig sein. Aber viele Leute wollen das nicht verstehen, weil in Bergkarabach ihre Familienmitglieder sterben.

Hrayr Baghramyan

"Im Westen herrscht die Meinung vor, dass Russland eine Schutzmacht Armeniens ist. Das ist bei weitem nicht mehr so."

Die Demonstrationen gegen die Regierung werden von der Opposition organisiert. Sie besteht aus ehemals Regierenden, die das Land eigentlich durch ihre Rechtlosigkeit und Korruption damals beraubt und letztendlich auch Armenien und Bergkarabach in einen solchen Zustand geführt haben.

Sie versuchen jetzt, die Gefühle der Menschen zu manipulieren, um wieder an die Macht zu kommen. Unterstützt wird diese Opposition von Russland.

DOMRADIO.DE: Russland hat sich eigentlich lange Zeit als eine Art Schutzmacht Armeniens dargestellt. Und es gibt auch durchaus russische Truppen in Bergkarabach. Warum haben die es nicht geschafft, einen militärischen Konflikt zu verhindern?

Baghramyan: Weil Russland es eigentlich nicht verhindern wollte. Im Westen herrscht die Meinung vor, dass Russland eine Schutzmacht Armeniens ist. Das ist bei weitem nicht mehr so - seit 2018, seit in Armenien eine demokratische Regierung an der Macht ist. Auch die jetzige Militäroffensive wurde sicherlich mit Russland und der Türkei abgestimmt. Dafür gibt es ausreichend Beweise.

Die Sprecherin des russischen Außenministers hat die aktuelle Offensive in Bergkarabach als eine Lehre für alle bezeichnet, die versuchen werden, in Zukunft ihre Sicht Richtung Westen zu richten. Russland will also Armenien bestrafen, weil die dortige Regierung versucht hat, den Konflikt mithilfe westlicher internationaler Partner zu lösen.

Hrayr Baghramyan

"Aserbaidschan hat eine eigene Interpretation des internationalen Rechts."

Russland hat sehr große gemeinsame Interessen mit Aserbaidschan und mit der Türkei. Auch der vorherige Krieg 2020 in Bergkarabach war eigentlich mit Russland abgestimmt.

Die russische Regierung hat Armenien trotz strategischer Partnerschaft in den letzten Jahren nicht unterstützt, weil dort  eine prowestliche Regierung an der Macht ist. Deswegen will Russland auch die Opposition an die Macht bringen, die sehr gut mit der russischen Regierung vernetzt ist.

DOMRADIO.DE: Es gibt durchaus auch Kritik an der Europäischen Union, weil sie zu wenig Druck auf Aserbaidschan ausgeübt habe. Wie sehen Sie das?

Baghramyan: Leider hat die Europäische Union zu wenig getan. Das Maximale waren Appelle an Aserbaidschan und Armenien. Wobei Armenien weder einen Krieg noch ethnische Säuberungen angefangen hat. Und wie der Außenminister von Aserbaidschan vor zwei Monaten bereits gesagt hat, reagiert das Land nicht auf Aufrufe der internationalen Gesellschaft. Aserbaidschan hat eine eigene Interpretation des internationalen Rechts.

Leider ist es so, dass auch die EU enge wirtschaftliche Beziehungen mit Aserbaidschan hat. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat vor einigen Monaten Aserbaidschans Präsidenten Oliyev, der für mich ein großer Verbrecher ist, im Zusammenhang mit Gas-Verträgen als vertrauenswürdigen Partner der EU bezeichnet.

Noch vor drei Wochen hat der EU-Außenbeauftragte Borrell betont, dass die EU nicht bereit ist, Sanktionen gegen Aserbaidschan wegen der Politik in Bergkarabach zu verhängen. Das hat der aserbaidschanischen Regierung sozusagen grünes Licht für diese Militäroffensive gegeben. Wirklich harte Kritik von Seiten der EU und der Bundesregierung an Aserbaidschan kam erst gestern. Ich denke, das ist verspätet.

DOMRADIO.DE: In Bergkarabach leben christliche Armenier, Aserbaidschan ist muslimisch geprägt. Ist das nun ein religiöser oder politischer Konflikt oder beides?

Hrayr Baghramyan

"Ich sehe keine Zukunft für die Menschen dort. Ich denke, wenn die Lage sich ein bisschen beruhigt, werden viele irgendwie versuchen, das Land zu verlassen."

Baghramyan: Beides. Armenien hat immer betont, dass es um Menschenrechte geht, um Rechte der Armenier in Bergkarabach. Aserbaidschan hat oft die Religion ins Feld geführt, hat Armenien im Zusammenhang mit dem Krieg um Bergkarabach den Dschihad erklärt.

In Wirklichkeit geht es aber von aserbaidschanischer Seite ums Territorium. Und von unserer Seite geht es eben um Menschenrechte. Leider werden die Menschen in Bergkarabach vollständig diskriminiert, genauso wie die Kosovaren früher im Krieg mit Serbien.

Die EU setzt hier leider Doppelstandards: Damals hat sie rechtzeitig reagiert, um das Leben der Kosovaren zu retten. In Bergkarabach ist das nicht der Fall.

DOMRADIO.DE: Gibt es irgendetwas in der derzeitigen Situation, was Ihnen Hoffnung macht? Oder sind Sie im Moment sehr pessimistisch?

Baghramyan: Ich bin leider eher pessimistisch. Aserbaidschan hat eigentlich 90 Prozent aller roten Linien der internationalen Gemeinschaft verletzt. Es sind wahrscheinlich nur zwei Punkte geblieben, nämlich, dass die Regierung von Aserbaidschan offiziell zugibt, dass sie Massaker an der Zivilbevölkerung verübt und Menschen deportiert.

Die Hoffnung bleibt, dass unter dem massiven Druck der internationalen Gemeinschaft vielleicht Deportationen und Massaker aufhören werden. Aber ich sehe keine Zukunft für die Menschen dort.

Ich denke, wenn die Lage sich ein bisschen beruhigt, werden viele irgendwie versuchen, das Land zu verlassen - ihre Heimat, wo sie seit 5000 Jahren leben und wo sie eine christliche Kultur entwickelt haben.

Das Interview führte Mathias Peter.

Information der Redaktion: Dr. Hrayr Baghramyan ist am 23. Oktober als Referent der Thomas-Morus-Akademie Bensberg zu hören. Infos zu seinem Vortrag "Der kaukasische Knoten. Armenien - Interessenkonflikt der großen Mächte" finden Sie hier.

Armenien bereitet sich auf Evakuierung der Karabach-Armenier vor

Die Ex-Sowjetrepublik Armenien im Südkaukasus bereitet sich auf eine mögliche Evakuierung von Armeniern aus dem von Aserbaidschan eroberten Gebiet Berg-Karabach vor. Der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan sagte in Eriwan, 40.000 Plätze seien vorbereitet. Es wäre besser, wenn die Karabach-Armenier in ihren Häusern bleiben könnten, sagte er bei einer Regierungssitzung am Freitag. Es könne aber sein, dass dies unmöglich werde. "Wenn sich die Lage verschlechtert, wird dieses Problem für jeden von uns auf der Tagesordnung stehen."

Konflikt in Berg-Karabach / © Dmitri Lovetsky (dpa)
Konflikt in Berg-Karabach / © Dmitri Lovetsky ( dpa )
Quelle:
DR