Theologe Fuchs erklärt die Bedeutung des Vaterunsers

"Vermächtnis Jesu an uns"

Es ist aus dem christlichen Leben nicht weg zu denken. Entgegen der Tendenz, das Vaterunser als Gewohnheit "herunterzubeten", wirft Theologe Gotthard Fuchs einen genaueren Blick auf das Gebet. Er sieht es auch als eine Lebenshilfe.

Vaterunser / © Harald Oppitz (KNA)
Vaterunser / © Harald Oppitz ( KNA )

DOMRADIO.DE: Hand aufs Herz, wie oft beten Sie denn das Vaterunser?

Pfarrer Dr. Gotthard Fuchs (DR)
Pfarrer Dr. Gotthard Fuchs / ( DR )

Dr. Gotthard Fuchs (Theologe und Autor): Das bete ich täglich. Also natürlich im Brevier als Priester und auch sonst ist mir das sehr lieb, einzeln in Versen oder als Gesamtgestalt mit den sechs Bitten.

DOMRADIO.DE: Inwiefern ist denn dieses Gebet eine Hilfe zum Leben?

Fuchs: Es ist eine Art Geländer. Von Anfang an ist es eigentlich mehr ein Gebetsraster oder ein Muster. Es ist ein Gebet, das man zwischen den Zeilen anreichern kann und seine eigenen Geschichten eintragen kann.

Das Vaterunser ist eigentlich kein Gebet, das einfach so durchgebetet wird, sondern eines, das mehr meditativ erschlossen wird, indem man zwischen den Zeilen ausruht.

DOMRADIO.DE: Es geht hier also um eine mystische Erfahrung oder Entdeckung dieses Gebetes mit diesen sechs Bitten. Was bedeutet das, dieses Gebet mystisch zu erfahren und nicht einfach nur wie eine Formel zu beten?

Fuchs: Bei dem Wort "Mystik" wäre ich vorsichtig. "Mystik" ist ja heute zu einer Blackbox geworden, in die alles reinpasst. Gemeint ist die geheime Struktur der Wirklichkeit. Wir können danken und bitten. "Danke" und "Bitte" sind die beiden Grundwerte menschlichen Lebens überhaupt. Entsprechend sind im Religiösen und im Christlichen natürlich Loben und Danken, Klagen und Bitten, Grundvollzüge.

Wenn man das Wort "mystisch" gebraucht, dann ist es die Einweisung in das Geheimnis des Daseins. Für uns als Christen ist klar, dass es nichts ohne Gott gäbe. Gott ist in allen Dingen, obwohl er in keinem Ding aufgeht. Er ist ganz in der Welt und ist trotzdem ganz anders als alles, was uns zugänglich ist.

Gott ist uns gegenüber, sodass er uns einerseits ganz fern ist und andererseits uns näher als wir uns selbst, weil wir ohne ihn gar nicht wären. In dieser Spannung von ganz fern und ganz nah, ereignet sich das, was man Beten nennt. Ein Innehalten also und das Bewusstsein: "Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete".

Wenn Sie das "Mystik" nennen wollen, gerne. So wie man auch in der Eucharistiefeier sagt: "Geheimnis des Glaubens", also Geheimnis, Mysterium, "Mystik". Lateinisch heißt das Sakrament.

Gotthard Fuchs

"Das Wort Abba heißt eigentlich Väterchen"

DOMRADIO.DE: Ganz zu Beginn des Vaterunsers steht die Anrede "Vater". Es gibt auch Menschen, die lieber Mutter, oder "Vater und Mutter" sagen. Was ist Gott nun für uns in der Anrede? Ist er eher väterlich, ist er mütterlich?

Fuchs: Das hängt davon ab, was Sie sagen. Für uns als Christen, die wir uns in der Tradition Jesu vorfinden und in Folge seiner Einladung beten, ist mit der Anrede natürlich eine schützende, eine führende, eine schöpferische, wohltuende und lebensfördernde Nähe gemeint, wie sie größer gar nicht gedacht werden kann. Alles, was ich über das Geheimnis, das wir "Gott" nennen, sagen, bleibt Metapher.

Das Wort "Abba" heißt eigentlich "Väterchen". Es stammt aus einer völlig patriarchalen Kultur, aber es meint völlig selbstverständlich im sogenannten Alten oder Ersten Testament, Vater und Mutter. Es meint also den bergenden Grund in allem. Das hebräische Wort für "Erbarmen" ist Ja, der "Mutterschoß".

Wie das Gleichnis vom verlorenen Sohn, vom barmherzigen Vater, dem es den Mutterschoß herumdreht. Also sind "Mutter", "Vater", "Freund", "Freundin" Metaphern für das Geheimnis einer großen schöpferischen Intimität und wohlwollenden Güte.

DOMRADIO.DE: Schauen wir uns dann mal die sechs Bitten des Vaterunsers an. Welche Bitte ist die, die Ihnen am wichtigsten ist?

Fuchs: Ich denke, dass es nicht darum geht, was mir am wichtigsten ist, sondern dass ich mich einschwinge in das, was mir vorgegeben ist. Wenn wir das Vaterunser als das Gebet Jesu, als sein Vermächtnis und Wegweiser begreifen dürfen, dann ist auch die Reihenfolge der Bitten wichtig. Dann zeigt sich auch, dass das Vaterunser in seiner vorliegenden Gestalt, wie sie bei Matthäus und bei Lukas überliefert ist, wie eine Waage mit jeweils drei Bitten ist.

Die ersten drei Bitten sind ganz anders als die letzten. Wie ein Staccato: Dein Reich komme, dein Wille geschehe, dein Name werde geheiligt. Punkt. Die folgenden sind: Gib uns unser täglich Brot, führe uns nicht in Versuchung, erlöse und von dem Bösen. Sie sind schon sprachlich anders.

Manche Fachleute sagen, die ersten drei Bitten sind das persönliche Gebet Jesu an seinen Gott. Sie sind quasi die Intimität Jesu als der, der sich im Gegenüber zu seinem Vater, als sein Sohn begreift. Die drei anderen Bitten sind das Vermächtnis Jesu an uns, wie wir beten, das später zusammengefügt wurde.

Aber eigentlich ist es wie eine Waage. Zuerst die drei Bitten Jesu, das ist sein Lebensgeheimnis, sein Gottgeheimnis, seine Persönlichkeit, man könnte auch sagen, das ist sein Schatz. Deswegen werden im Vaterunser Jesus und wir nie in einem Atemzug auf Gott bezogen.

Er sagt immer mein Vater und euer Vater. Es ist derselbe Gott, aber in der Beziehung zu Jesus einmalig anders als in der Beziehung zu uns. Wenn Sie jetzt fragen, was mir besonders lieb ist, kann ich das schwer sagen, vielleicht "Es komme dein Reich", es komme deine Weltherrschaft, es soll endlich überall durchkommen, wie du die Welt willst und geschaffen hast.

Gotthard Fuchs

"Geh mit uns durch dick und dünn"

DOMRADIO.DE: Die Bitte "Und führe uns nicht in Versuchung", hat vor einigen Jahren für Diskussionen gesorgt, nachdem Papst Franziskus angeregt hatte, diese neu zu übersetzen. Wie interpretieren Sie diese Bitte, nicht in Versuchung geführt zu werden?

Fuchs: Die aktuelle Fassung des Vaterunsers nach Matthäus und Lukas hatte eine griechische Fassung vorliegen. Die kommt also schon übersetzt aus dem Hebräischen und das Hebräische aus dem Aramäischen. Wenn man diese Übersetzung der Geschichte mitliest, ist völlig klar, dass gemeint ist: "Führe uns nicht in eine Prüfung, die uns überfordert". Und da zittert immer das Bewusstsein beim Vaterunser mit, dass höchste Dringlichkeitsstufe besteht.

Jesus selber hat vermutlich damit gerechnet, dass zu seinen Lebzeiten die Welt noch "untergeht", weil sie so ungerecht und unheilbar durcheinander ist. Er hatte die Hoffnung, dass Gottes Welt kommt, Gottes Reich. In der Endphase der Welt sollte also keine Prüfung stehen, durch die wir durchfallen.

Schon der Jakobusbrief hat im Neuen Testament quasi als Korrektur gesagt, dass Gott nie in Versuchung führt, sodass er mit einem Katz und Maus spielt, das wäre pervers oder sadistisch.

"Führe uns durch die Versuchung" könnte man dann auch übersetzen. Das war auch der Vorschlag von Papst Franziskus. Obwohl ich persönlich meine, wir sollten bei dem Text bleiben, wenn man Versuchung richtig versteht. Die genauere Übersetzung ist "Prüfung", also geh mit uns durch dick und dünn und achte so auf uns, dass wir nicht in dem Schlamassel untergehen.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

Vaterunser-Debatte

Das Vaterunser ist das wichtigste Gebet der Christen. Jesus selbst soll es die Jünger zu beten gelehrt haben. In den Evangelien des Matthäus (6,9-13) und des Lukas (11,4) ist es im Neuen Testament überliefert. Wahrscheinlich ist, dass Jesus seine Jünger das Gebet auf Aramäisch oder auch auf Hebräisch lehrte. Sein Wortlaut lässt sich jedoch nicht genau rekonstruieren.

Papst Franziskus betet Vaterunser / © Vatican Media/Romano Siciliani (KNA)
Papst Franziskus betet Vaterunser / © Vatican Media/Romano Siciliani ( KNA )
Quelle:
DR