Dazu haben die Theologin Regina Elsner von der Universität Münster und die Religionswissenschaftlerin Iryna Fenno einen "Länderbericht" für die Hilfswerke missio und Renovabis erstellt.
Im Fokus steht dabei der bereits vor dem Krieg virulente Konflikt zwischen der Ukrainisch-orthodoxen Kirche (UOK), die vormals mit dem Moskauer Patriarchat verbunden war, und der neueren Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU), für die die Regierung der Ukraine Partei ergreift.
Christen in der Ukraine
Die Ukraine ist ein zutiefst vom byzantinischen Christentum geprägtes Land und zugleich multikonfessionell. Über 62 Prozent der Menschen bekennen sich zur Orthodoxie. Dazu kommen 13 Prozent Katholiken, von denen die meisten einer der beiden katholischen Ostkirchen des Landes – der Ukrainischen griechisch-katholischen und der Ruthenischen griechisch-katholischen Kirche – angehören, die auch die byzantinische Tradition pflegen. Doch gibt es auch eine protestantische Präsenz in dem Land von fast 4 Prozent.
Dabei zeigt sich auch konfessionell eine Spaltung des Landes, die vergleichbar ist mit der sprachlichen Spaltung vor dem Krieg. Im Westen dominierten die byzantinischen Katholiken und zuletzt die OKU, während im Osten die Orthodoxie russischer Prägung mit der UOK vorherrschte.
Spielball der Geschichte
Das liegt auch an der wechselvollen Geschichte der Ukraine, die immer ein Spielball zwischen dem katholischen Polen im Westen und dem orthodoxen Russland war. Zugleich betrachtet Russland Kiew als Wiege seines Christentums: Aufgrund der engen militärisch-politischen, handelswirtschaftlichen und geistig-kulturellen Beziehungen zu Byzanz führte Fürst Wolodymyr (Wladimir) der Große 988 das Christentum in seiner östlichen, byzantinisch-slawischen Tradition als Herrschaftsreligion in der "Rus" ein.
Man spricht hier von der "Taufe der Rus", die von russischer Seite ein Identitätsmarker der ideologisch angestrebten "Russischen Welt" darstellt.
Zwischen den beiden orthodoxen Kirchen der Ukraine – der UOK und der OKU – gibt es lehrmäßig keinen Unterschied. Doch bekriegen sich die beiden Kirchen und erkennen sich gegenseitig nicht an.
Zuletzt kam es daher zu Konflikten um die Kiewer Lawra (Höhlenkloster) und andere Heiligtümer, die die etabliertere, aber früher von Moskau abhängige UOK weiterhin beansprucht. Dagegen möchte die OKU ihren Anspruch auf das authentische Erbe der Kiewer Tradition durchsetzen.
Prekäre Situation für ROK
Zwar trennte sich die UOK aufgrund der offenen Unterstützung des Krieges durch die Kirchenleitung in Moskau im Mai 2022 von der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK). Doch bleibt auch an ihrem Status manches unklar, was allerdings auch für die konkurrierende OKU gilt, die zwar vom Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios anerkannt, jedoch von vielen anderen orthodoxen Kirchen abgelehnt wird.
Prekär ist die neue Situation für die ROK und das Moskauer Patriarchat. Dort ebenso wie im Kreml sieht man in Kiew ein geistig-geistliches Zentrum Russlands. Auch deswegen erkennt Patriarch Kyrill die Trennung der UOK nicht an. Dazu verliert das Moskauer Patriarchat durch die Trennung rund ein Drittel der Gläubigen und den direkten Zugriff auf die Heiligtümer, die den Ursprung ihrer Kirche symbolisieren. Dazu gilt die Orthodoxie in der Ukraine als deutlich vitaler als in Russland.
Politisch aufgeladen wird der Konflikt zwischen den Kirchen nicht erst seit dem Krieg. Die Ukraine erkennt die Religions- und Gewissensfreiheit an, wirft aber der UOK vor, latent oder sogar tatsächlich personell und administrativ von Moskau weiterhin abhängig zu sein. Hier wollen staatliche Organe aktiv entgegenwirken: Der Nationale Sicherheitsrat der Ukraine hat Ende 2022 Änderungen und Sanktionen beschlossen, die es religiösen Organisationen, die mit Russland verbunden sind, unmöglich machen sollten, in der Ukraine weiterhin tätig zu sein. In der Folge wurden persönliche Sanktionen verhängt gegen zehn Personen, die mit der ROK in Verbindung stehen, darunter die meisten Bischöfe in den besetzten Gebieten und auf der annektierten Krim.
Spionage und Zwang
Auch die Spionageabwehr nahm Geistliche der ehemals mit Moskau verbundenen UOK ins Visier. Und weite Teile des Kiewer Höhlenklosters wurden der Kirche entzogen. Außerdem gibt es Berichte über Versuche, den Wechsel von Pfarreien der UOK zur OKU zu erzwingen.
Für Aufsehen sorgte auch die Verurteilung des Metropoliten Ionafan von Tulchin zu fünf Jahren Gefängnis, da ihm die Unterstützung des russischen Angriffs unterstellt wurde – unter anderem weil er in einem Artikel die Ukraine mit dem historischen Begriff "Kleinrussland" bezeichnet habe. Angeklagt wurde der Erzbischof unter anderem für die angebliche Rechtfertigung des Angriffs auf die territoriale Integrität der Ukraine, für Aktionen, die auf einen gewaltsamen Machtwechsel abzielen würden, sowie für eine Verletzung der religiösen Gleichheit der Bürger.
Kalenderwechsel
Ein anderer Punkt, an dem sich Politisches und Religiöses vermischen: Die Ukrainische griechisch-katholische Kirche und die OKU setzen angesichts des Krieges nun den gregorianischen Kalender an Stelle des julianischen. Bislang feierten die byzantinischen Christen der beiden orthodoxen Kirchen und auch die unierten Katholiken am 7. Januar das Weihnachtsfest, künftig am 25. Dezember. Auch der Staat hat infolge des Krieges den julianischen Weihnachtsfeiertag gestrichen. Die UOK wird dagegen beim alten Datum bleiben.
Über all dies hinaus haben auch die Kriegsereignisse selbst Einfluss auf die Christen des Landes. Das betrifft zum einen die von Russland annektierten Gebiete im Osten und Süden des Landes, in denen die Religionsfreiheit zugunsten der Russischen Kirche unter Druck gerät.
"Es wurden die Praktiken und Normen der Russischen Föderation eingeführt, wobei religiöse Aktivisten, Gläubige und Freiwillige, die ihre Unterstützung für das Besatzungsregime nicht zum Ausdruck bringen, besonders hart verfolgt werden", heißt es im Bericht von missio und Renovabis weiter. Die OKU kann dort nicht mehr arbeiten; aber auch die UOK gerät unter Druck. So übernahm das Moskauer Patriarchat alle Diözesen in dem besetzten Gebiet und trennte sie von der Kiewer Metropolie der UOK.
Zerstörte Kirchen
Seit Kriegsbeginn sind überdies bis zu 450 Gotteshäuser durch Beschuss zerstört worden. Prominentestes Beispiel dürfte die Verklärungskathedrale in Odessa sein, die im Juli 2023 getroffen wurde. Das einst schon von Stalin zerstörte Gotteshaus wurde nach dem Wiederaufbau vom russischen Patriarchen Kyrill 2010 wieder eingeweiht.
Ähnlich verstörend hebt der Bericht den Angriff auf das Kloster der Entschlafung der Allheiligen Gottesgebärerin Maria "Swjatohirsk Lawra" in der Region Donezk hervor. Das Heiligtum sei "erstmals am 12. März 2022 aus der Luft angegriffen worden, als neben den Mönchen auch etwa 500 Laien vor dem Krieg Schutz suchten. Später wurde die Lawra mehrmals beschossen, wobei Mönche und Bewohner des Klosters getötet und verwundet wurden."
Eine wichtige Rolle spielt derzeit der "Allukrainische Rat der Kirchen und religiösen Organisationen" (ACCRO). Er versammelt seit 1996 Akteure aller Kirchen und Religionsgemeinschaften zum Dialog. "Insgesamt gab es Anfang 2021 in der Ukraine neun interreligiöse und interkonfessionelle Vereinigungen auf nationaler Ebene, die sich als Foren verstehen, um interkonfessionelle und interreligiöse Beziehungen zu fördern und gemeinsame Interessen gegenüber dem Staat zum Ausdruck zu bringen", so der Länderbericht. Trotz Krieg und Konflikten – man spricht also wenigstens noch miteinander.