KNA: Ihr Buch gliedert sich in drei Teile: Depressionen, Angststörungen und Sucht. Warum gerade diese drei Bereiche?
Franca Cerutti (Psychotherapeutin, Podcasterin und Autorin): Das sind die drei häufigsten psychischen Erkrankungen, mit denen wir in Deutschland zu tun haben. Gerade Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit haben viele Menschen weniger auf dem Schirm, sondern verschließen eher die Augen.
KNA: Woran liegt das?
Cerutti: Insbesondere Alkohol ist ein unbeliebter Diskussionsgegenstand, weil die meisten Menschen selbst Alkohol konsumieren. Er gilt als Genussmittel und ist weit verbreitet. Vielen ist vielleicht bewusst, dass der Konsum ab einem gewissen Ausmaß fragwürdig wird oder auch dann, wenn man Alkohol als Selbstmedikation nutzt. Aber wir müssten viel ehrlicher darauf schauen, wie zerstörerisch Alkohol wirkt - in Familien, Gemeinschaften und für Individuen, die eben nicht Schuld sind, wenn sie die Kontrolle verlieren.
KNA: Über Depressionen gab es dagegen zuletzt viel Aufklärung, der Umgang ist offener geworden. Geht das zulasten anderer Erkrankungen?
Cerutti: Ich habe eher das Gefühl, dass es eine gewisse generelle Offenheit mit sich bringt. Das erfolgt vielleicht etwa zeitversetzt, aber inzwischen gibt es auch Menschen, die sich öffentlich zu ihrer Alkoholabhängigkeit bekennen. Ich begrüße es grundsätzlich sehr, dass über psychische Erkrankungen offener gesprochen wird.
KNA: Was bräuchte es, um auch die noch bestehenden Vorurteile zu überwinden?
Cerutti: Beim Thema Alkohol gibt es politische Bemühungen, die aber eher halbherzig sind. So muss in Lokalen oder auf Festen immer ein alkoholfreies Getränk angeboten werden, das preiswerter ist als der günstigste Alkohol. Dabei wissen wir aus der Konsumforschung, dass es nicht allein ums Geld geht. Es ist schön, wenn ich ein Wasser oder eine Apfelschorle günstiger bekomme als ein Bier - es reicht aber nicht aus. Die Gesellschaft ist beinah gehirngewaschen, was den Umgang mit diesem Nervengift angeht.
KNA: Inwiefern?
Cerutti: Alkohol gilt als entspannend oder luxuriös, gehört zu jeder Festlichkeit dazu. Bis zu einem gewissen Alter ist der Konsum strikt verboten, dann beginnt eine Art Trainingscamp, in dem Menschen herangeführt werden. Dieser Umgang ist, mit etwas Abstand betrachtet, absurd. Statistisch gesehen kennt jeder mindestens eine Person, die alkoholabhängig ist, auch deshalb ist dieser gedankliche Spagat erstaunlich.
KNA: Die Corona-Zeit hat auch dieses Problem eher verschärft...
Cerutti: Das war eine furchtbare Zeit, die die psychische Gesundheit in jeglicher Hinsicht belastet hat. Es gab mehr Gewalt in Familien; Essstörungen unter jungen Menschen haben zugenommen oder wurden zumindest mehr bemerkt. Menschen, die vorher sozialpsychologisch unterstützt wurden, konnten diese Angebote nicht mehr wahrnehmen, und dadurch haben sich ohnehin bestehende Probleme oft vergrößert.
KNA: Sehen Sie auch Chancen, etwa durch die verstärkte Telemedizin, Podcasts und Apps zu entsprechenden Themen?
Cerutti: Ich stehe dem sehr positiv gegenüber. Schon bevor an Corona zu denken war, habe ich mich für Online-Beratung oder auch -Therapie eingesetzt. Viele Menschen leben dezentral, sind nicht mobil oder nehmen Online-Angebote eher in Anspruch, weil sie sich normaler anfühlen. Deswegen bin ich bestürzt, dass viele aus meiner Berufsgruppe da momentan eher auf die Bremse treten. Sie wollen vielleicht das klassische Modell schützen, bei dem sie in ihrer Praxis sitzen und die Menschen zu ihnen kommen. Für mich ist das kein Entweder-Oder, sondern eine hoch sinnvolle Ergänzung.
KNA: Vielleicht auch, um die Wartezeit auf einen Therapieplatz zu überbrücken?
Cerutti: Natürlich sollte es nicht so sein, dass kostengünstige Apps den Markt fluten, aber parallel keine Therapieplätze entstehen. Jeder Therapeut, den ich kenne, könnte rund um die Uhr arbeiten und hätte trotzdem noch eine Warteliste. Die Bedarfsbemessung ist keineswegs zeitgemäß und wird der Realität nicht mehr gerecht.
KNA: Umgekehrt weisen auch Therapeutinnen oder Psychiater darauf hin, dass nicht jede Krise einen Krankheitswert hat.
Cerutti: Daher sind niederschwellige Angebote zur Unterstützung absolut sinnvoll. Allerdings wird gerade jüngeren Menschen derzeit vorgeworfen, sie seien nicht belastbar und untauglich für das Arbeitsleben. Dabei leiden sie offenbar massiv unter hoher Belastung und einem krisenhaften Erleben der Welt. Ihre Kindheit oder Jugend wurde durch Corona für zwei Jahre ausgehebelt, hinzu kommen der Krieg und die Klimaveränderungen. Das scheint junge Menschen mehr mitzunehmen als ältere, vielleicht auch, weil sie noch eine weitere Strecke an Zukunft vor sich haben.
KNA: Was müsste hier geschehen?
Cerutti: Unfair ist, sie zu beschimpfen oder sie als verzärtelt hinzustellen. Sie sind nicht überempfindlich, sondern belastet von tatsächlichen Krisen. Da müsste sich die Gesellschaft fragen, wie man der Jugend einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft schenken kann.
KNA: Was kann man tun, wenn man den Eindruck hat, dass jemand im Umfeld psychisch belastet oder sogar erkrankt ist?
Cerutti: Da braucht es Fingerspitzengefühl. Ein Beispiel: Auch wenn ich denke, dass jemandem eine Therapie gut tun würde, sollte ich akzeptieren, wenn derjenige selbst das ablehnt. Ich sage in solchen Fällen gern: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Wichtig ist, Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. Man kann die eigene Sorge äußern und der Person auch sagen, dass sie einem wichtig ist. Verständnis ist für viele Betroffene das Wichtigste.
Viele Menschen mit Depressionen fühlen sich von ihrem Alltag überfordert. Da kann es sehr hilfreich sein, proaktiv Unterstützung anzubieten statt nur zu sagen "melde dich, wenn du etwas brauchst". Um Hilfe zu bitten, schaffen depressive Menschen oft nämlich nicht. Man kann konkret fragen, was man jemandem abnehmen kann, etwa bestimmte Telefonate oder Erledigungen.
KNA: Viele übersehen auch Alarmzeichen bei sich selbst, etwa Verspannungen oder Schlafstörungen, die wohl jeder mal hat. Wann wird es kritisch?
Cerutti: Wenn man das "mal hat", ist das in Regel unproblematisch. Dann hilft es oft schon, sich ein Wochenende wirklich Ruhe zu gönnen, viel zu schlafen und sich keine Aktivitäten abzuverlangen. Kritisch wird es, wenn man über einen längeren Zeitraum gewisse Veränderungen an sich beobachtet: dass man etwa über mehrere Wochen schlechter Stimmung ist, untypisch wenig Antrieb hat, dass Dinge, die einem immer Spaß gemacht haben, einen nicht mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Das gilt auch für Symptome wie Zähneknirschen, ständige Kopf- oder Rückenschmerzen, Erschöpfung. Der Hausarzt kann eine erste hilfreiche Adresse sein – und bei Bedarf an Fachärzte vermitteln.
Das Interview führte Paula Konersmann.