Hemmschwelle zu Gewalt gegen deutsche Juden könnte sinken

"Es widert mich an"

Israelbezogener Antisemitismus ist in Deutschland verbreitet. Nach dem Angriff der Hamas und der israelischen Gegenoffensive sorgt sich die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland um die Sicherheit der Menschen.

Kundgebung gegen Antisemitismus in Berlin / © Markus Nowak (KNA)
Kundgebung gegen Antisemitismus in Berlin / © Markus Nowak ( KNA )

DOMRADIO.DE: Nach dem Überfall der Hamas auf Israel gab es in Deutschland pro-palästinensische Demonstrationen, bei denen "Allahu Akbar" und "Free Palestine" skandiert wurde. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie solche Bilder sehen?

Aron Schuster ist Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (privat)
Aron Schuster ist Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. / ( privat )

Aron Schuster (Direktor Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V.): Absolutes Unverständnis. Die jüdische Gemeinschaft befindet sich angesichts dieser Massaker und des Massenmordens, die Israel getroffen haben, noch im Schockzustand. Es widert mich an, dass Hinrichtungen und Geiselnahmen von Zivilisten bejubelt und gefeiert werden. Ein Ausdruck von tiefsitzendem Antisemitismus.

DOMRADIO.DE: Machen Sie sich Sorgen um Juden und jüdische Einrichtungen in Deutschland?

Schuster: Als sozialer Dachverband der jüdischen Gemeinden in Deutschland haben uns in den letzten Tagen sehr viele Solidaritätsbekundungen, Hilfsangebote und Spenden aus der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland erreicht, das stützt und macht Mut in dieser schwierigen Situation.

Aron Schuster

"Die Sorge ist groß, dass die Brutalität nochmal deutlich zunehmen und die Hemmschwelle für Gewalt auf offener Straße sinken könnte."

Wir rechnen damit, dass Israel in den nächsten Tagen alles unternehmen wird, um seine Bevölkerung dauerhaft vor derartigen Gräueltaten zu schützen und das wird vermutlich in einer größeren Gegenoffensive enden.

Aus der Vergangenheit wissen wir, dass es nach Operationen des israelischen Militärs auch immer wieder zu Gewalt gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland kam. Der Konflikt und Hass auf Juden werden dann auf Europa übertragen. Die jüdische Community und mittlerweile auch die deutschen Sicherheitsbehörden kennen diese Mechanismen jedoch sehr gut.  Die Sorge ist groß, dass die Brutalität nochmal deutlich zunehmen und die Hemmschwelle für Gewalt auf offener Straße sinken könnte.

Antisemitische Schmierereien an einer Berliner Gedenkstätte / © Daniel Reinhardt (dpa)
Antisemitische Schmierereien an einer Berliner Gedenkstätte / © Daniel Reinhardt ( dpa )

DOMRADIO.DE: Auch auf palästinensischer Seite gibt es viele zivile Opfer, die Hamas instrumentalisiert ihre eigene Bevölkerung. Ist das ein Thema in der jüdischen Gemeinschaft hierzulande?  

Schuster: Natürlich sind wir uns dessen bewusst. Aber es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu betonen, dass das israelische Militär durchaus versucht, die Kollateralschäden so gering wie möglich zu halten: Durch Vorwarnungen an die Bevölkerung, durch das Versenden von Nachrichten und Flugblättern, durch Hinweise, wo die Menschen sich vor Raketenangriffen in Sicherheit bringen sollen. Uns ist bewusst, dass die Hamas die Bevölkerung als Schutzschilde benutzt, aber in Anbetracht dessen, was wir seit Samstag dort erleben, halte ich es für alternativlos, dass sich Israel jetzt von dieser Terrorfront befreit.

DOMRADIO.DE: Organisieren Sie als Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland auch Hilfe für Israel?

Aron Schuster

"Perspektivisch wird es auch irgendwann um den Wiederaufbau gehen."

Schuster: Unsere Maßnahmen haben zwei Stoßrichtungen: Zum einen versuchen wir, die in Deutschland lebenden, hebräisch sprechenden Menschen psychosozial zu unterstützen über unsere Telefon-Hotline "Matan", die schon vor längerer Zeit von uns initiiert wurde: Diese wendet sich an Israelis, Jüdinnen und Juden in Deutschland, die mental belastet sind oder vielleicht auch schon Freunde oder Angehörige verloren haben. Matan bietet einen Anker, Jemanden, mit dem sie sich austauschen können und der ihnen zuhört.

Und auch die Betroffenen in Israel selbst versuchen wir durch unsere Hilfsorganisation IsraAID Germany zu unterstützen, die seit Jahren im Ausland gezielt humanitäre Hilfe leistet, beispielweise in Griechenland oder in der Ukraine. Fokus wird hierbei auf der psychosozialen Erstversorgung und Versorgung sowie der Unterbringung von Binnenvertriebenen liegen: Wir gehen aktuell davon aus, dass rund 100.000 Menschen aus dem Süden Israels evakuiert werden mussten.  Perspektivisch wird es auch irgendwann um den Wiederaufbau gehen. 

DOMRADIO.DE: Als sozialer Dachverband der jüdischen Gemeinden in Deutschland haben Sie viele Austausch- und Freiwilligendienstprogramme organisiert. Was passiert mit denen? Werden die Teilnehmenden jetzt zurückgeholt?

Schuster: Als Koordinator des deutsch-israelischen Freiwilligendienstes sind wir mit vielen Volunteers in Israel vertreten, mit denen stehen wir im intensiven täglichen Austausch. Die Freiwilligen sind alle in Einsatzstellen in nördlich gelegenen Landesteilen untergebracht. Aber es gibt natürlich einige, die – aus völlig nachvollziehbaren Gründen – zurückwollen, die unterstützen wir dabei. Das ist gerade nicht ganz einfach, aber nach wie vor möglich.

Andere wiederum wollen ihre Arbeit in sozialen Einrichtungen zum Beispiel mit autistischen Kindern und Jugendlichen unbedingt fortsetzen. Sie verstehen ihren Freiwilligendienst als Beitrag, Israel in dieser schweren Situation zu unterstützen. 

DOMRADIO.DE: Haben Sie Forderungen an die deutsche Politik?

Schuster: Terrororganisationen und all diejenigen, die sie unterstützen und mittragen, müssen mit allen Mittel des Rechtsstaates bekämpft werden. Die Politik muss ihre Scheuklappen ablegen, konsequenter gegen Verfassungsfeinde im Inland vorgehen, aber auch Zahlungsströme an palästinensische Institutionen im Ausland intensiver hinterfragen.

Das Interview führte Ina Rottscheidt. 

Juden in Deutschland

Jüdisches Leben auf dem Gebiet der Bundesrepublik gibt es seit mehr als 1.700 Jahren. Der älteste schriftliche Nachweis stammt aus dem Jahr 321 aus Köln. Vor der nationalsozialistischen Machtergreifung lebten 1933 auf dem Gebiet des Deutschen Reiches rund 570.000 Juden. In der Folge des Holocaust wurden etwa 180.000 von ihnen ermordet, sehr viele flohen. 1950 gab es nur noch etwa 15.000 Juden in Deutschland. Eine Zukunft jüdischen Lebens im Land der Täter schien unwahrscheinlich und war innerjüdisch umstritten.

Ein jüdischer Mann mit einer Kippa / © Nelson Antoine (shutterstock)
Ein jüdischer Mann mit einer Kippa / © Nelson Antoine ( shutterstock )
Quelle:
DR