DOMRADIO.DE: Der Name Willi Graf ist heute weniger Menschen geläufig als der der Geschwister Scholl. Wofür steht dieser Name, wer war Willi Graf?
Hildegard Kronawitter (Vorsitzende der Weiße Rose Stiftung): Willi Graf war ein Medizinstudent und Sanitätssoldat während des Zweiten Weltkrieges. Er hatte sich zusammen mit der Gruppe um Hans Scholl gegen die nationalsozialistische Diktatur gestellt. Wir erleben ihn als sehr mutig, weil er um das Lebensrisiko wusste, dass damals mit dem Flugblatt einherging.
DOMRADIO.DE: Anders als Hans und Sophie Scholl und Christoph Probst ist Graf nicht sofort hingerichtet worden, sondern erst nach acht Monaten in Haft. Warum? Und was hat das für ihn bedeutet?
Kronawitter: Willi Graf wurde am 19. April 1943 wie zwei andere Personen aus der Gruppe der Weißen Rose zum Tode verurteilt. Bis zum 12. Oktober wurde er in Einzelhaft gehalten und wurde immer wieder verhört, das geht aus Dokumenten hervor. Das heißt, es gab noch Personen im Umkreis der Weißen Rose, bei denen die Gestapo vermutete, sie könnten Helfer gewesen sein. Er wurde sozusagen für Verhöre am Leben gehalten.
DOMRADIO.DE: Prägend waren auch seine Erfahrungen als Sanitäter bei verschiedenen Einsätzen der Wehrmacht, und zwar von 1940 bis 1942. Was hat er da erleben müssen?
Kronawitter: Seine Erfahrungen in dieser Zeit können wir nur kurzen Tagebuchnotizen entnehmen beziehungsweise aus Briefstellen. Nachvollziehbar ist – und das verbindet sich auch mit historischem Wissen um das Kriegsgeschehen – dass er im Winter 41/42 in der Nähe von Moskau als Sanitätssoldat stationiert war und dort Schreckliches erlebt hat.
Wir wissen heute, dass die Soldaten der Wehrmacht sich zurückziehen wollten, weil sie spürten, sie sind unterlegen. Da hat die SS sie mit Schießereien gestoppt. Willi Graf hat auch erlebt, wie Dörfer niedergebrannt wurden bei diesem Rückzug. So schreibt er einmal an seine Schwester Anneliese: "Es ist Schreckliches, was wir hier zu sehen haben. Ich wünschte, ich hätte das nie erleben müssen." Daraus schließen wir, dass es wirklich grauenhaft war und es den jungen Mann besonders bedrängt und belastet hat.
DOMRADIO.DE: Willi Graf stammt aus einer rheinisch-katholischen Familie in der Nähe von Euskirchen. Er wurde in der katholischen Jugendarbeit sozialisiert. Welche Bedeutung hatte das für seinen mutigen Einsatz gegen die Nazis?
Kronawitter: Es ist klar, dass Willi Graf ein katholisch-geschärftes Gewissen hat. Eben von der Familie her, aber insbesondere auch von der Zugehörigkeit zu katholischen Jugendorganisationen. Wir glauben, dass ohne dieses Bewusstsein, ohne dieses Gewissen der Widerstand gar nicht erfolgt wäre. Es wäre leichter gewesen, sich Wegzuducken oder mitzumachen. Es war eine Gewissensentscheidung sich dem NS-Terror zuwidersetzen.
DOMRADIO.DE: Wir erleben ja jetzt gerade wieder einen Rechtsruck in ganz Europa. Welche Bedeutung hat das Gedenken an Willi Graf vor diesem Hintergrund?
Kronawitter: Dieses Gedenken ist sehr wichtig. Wir müssen immer wieder auch sichtbar machen, was eine Diktatur bedeutet, was die Unterdrückung von Freiheit und Menschlichkeit für Konsequenzen hat. Und das historische Beispiel zeigt uns, dass es übermenschlich ist, wenn eine Diktatur bereits installiert ist, Widerstand zu leisten und sich dagegen zu stellen. Also das Lernen aus der Geschichte in dieser Situation sagt uns, dass wir als Demokratinnen und Demokraten eintreten müssen für Freiheit, für Menschlichkeit, für Toleranz und für einen zivilen Umgang miteinander.
Das Interview führte Hilde Regeniter.