DOMRADIO.DE: Mehr Geld vom Bund, erst später volle Sozialleistungen für Asylbewerber – zentrale Punkte des mühsam ausgehandelten Kompromisses der vergangenen Nacht. Ist das erst einmal ein guter Kompromiss?
Gesine Schwan (SPD-Politikerin, Präsidentin der Berlin Governance Plattform): Nein, das muss man auseinander nehmen. Mehr Geld vom Bund finde ich durchaus vernünftig. Das verweist ja darauf, dass diese Debatte zwischen Bund, Ländern und Gemeinden im Rahmen von Finanzverhandlungen geführt wird.
Es ist klar, dass Gemeinden, soweit sie befragt werden, in diesem Aushandeln betonen, wie schlecht sie finanziell dran sind. Das ist eine machtpolitisch konnotierte Debatte. Also, das Geld vom Bund finde ich okay. Alles andere empfinde ich als Nebelkerzen, denn damit wird nichts bewirkt und man hofft wohl, dass man durch eine taffe, harte Sprache und scharfe Worte irgendwie die Volksmeinung trifft.
Ich halte das für falsch und außerdem kontraproduktiv, weil das eigentlich nur das Vokabular der AfD bedient und es wird in der Sache nichts bringen. Das ist lächerlich. Es gibt genug Untersuchungen dafür, dass die Auszahlung für Geflüchtete nicht der Pull-Faktor sind, wie es immer behauptet wird.
DOMRADIO.DE: Sie sagen "kontrollierte Migration" ist machbar und haben mit Ihrer "Governance Platform" ein Algorithmus-Projekt zur Verteilung von Geflüchteten entwickelt. Wie genau funktioniert dieses Matching?
Schwan: Voraussetzung für diese Machbarkeit und auch für den Algorithmus ist, dass man nicht gegen Geflüchtete versucht zu kontrollieren, sondern mit ihnen zusammen und auch auf ihrer Freiheit und ihren Interessen aufbauend, aber auch auf den eigenen der Einheimischen. Eine Kontrolle gegen Geflüchtete wird nie gelingen.
Bei dem Matchingsystem wird versucht, die Interessen, Absichten und Fähigkeiten von Geflüchteten mit den von Kommunen abzugleichen, sodass man auf beiden Seiten schneller Befriedigung erzielt.
Wenn wir wissen, welche in welchen Bereichen zum Beispiel Geflüchtete arbeiten können und wir wissen, in welchen Bereichen Kommunen Arbeitskräfte suchen, dann kann man das natürlich viel besser machen. Die Kommunikation soll über den Algorithmen stattfindet. Wir haben schon Experimente gemacht bei der Relocation von Ukrainern nach Deutschland.
DOMRADIO.DE: Was für Ergebnisse hat die Testphase des Matchings gebracht?
Schwan: Die Erkenntnis ist, dass es zunächst nicht ganz einfach ist, weil man die Kommunen und Geflüchtete sehr sorgfältig befragen muss, was sie brauchen und anbieten können. Aber es gelingt.
Wir haben in dieser kleinen Testphase 80 Ukrainer mit Kommunen in Deutschland zusammen gebracht, die auch freiwillig aufgenommen haben. Das ist natürlich keine große Zahl, aber wir sind auch eine kleine NGO und haben das einfach als getestet.
DOMRADIO.DE: Wäre das ein gutes Modell für die Bundesrepublik in ihrer aktuellen Situation mit vielen Geflüchteten aus der Ukraine plus den anderen Flüchtlingen?
Schwan: Also ich sehe es prinzipiell als Modell nicht nur für die Bundesrepublik, sondern für Europa. Wenn man das Asyl-Prüf-System sinnvoll und im Interesse beider, der Geflüchteten und der Einheimischen, organisieren will, dann sollte man nach dem niederländischen Muster Geflüchteten sofort unabhängige Anwälte zur Seite stellen und sofort mit NGOs Unterstützung biete und damit im Asylverfahren Transparenz entsteht.
Während diesem schnellen Verfahren, die in den Niederlanden zwei bis drei Monate dauern, können die Geflüchteten überlegen in welche Orte sei gerne möchten. Die Zeit sollten sie auch nutzen für Sprachkurse oder um Berufschancen auszumachen.
Nach der Prüfung können anerkannte Flüchtlinge dann über das Matching System in Deutschland, perspektivisch auch in Europa verteilt werden. Wenn man nicht anerkannt werden kann, plädiere ich dafür, dass man den Spurwechsel da erleichtert.
Konservative entgegnen dann, dass das einen Pull-Effekt hat und raten davon ab. Ich sage ganz deutlich: Wir werden diesen Pull-Effekt für Arbeitskräfte unglaublich brauchen. Wir haben in Deutschland nicht den Ruf einer freundlichen Willkommenskultur. Wir können froh sein, wenn wir unsere großen Lücken im Arbeitskräftemangel füllen können.
DOMRADIO.DE: Sie sind ja nun SPD-Politikerin, also in der Kanzlerpartei. Sie werden sicher diese Vorschläge mit eingebracht haben. Wie optimistisch sind Sie, dass Sie, angesichts der aktuellen Gemengelage in der Ministerpräsidentenkonferenz mit diesen Vorschlägen auch tatsächlich etwas verändern können?
Schwan: Im Moment bin ich nicht optimistisch, weil es geradezu eine öffentliche und auch politische Hysterie gibt in Bezug auf die Aufnahme von Geflüchteten. Wenn man das lange beobachtet, weiß man, dass es immer wieder diese Wellen gibt, die zum Beispiel durch die Landtagswahlen und die Gewinne der AfD zustande kommen.
Die Maßnahmen, die jetzt diskutiert werden, um die Zahl der Ankommenden zu begrenzen oder sogar zu verringern, sind nicht tauglich. Das sage ich ganz hart. Es wird nicht zu dem führen, was jetzt behauptet wird. Diese Abschieberei – das haben sowieso alle erkannt.
Ich verstehe nicht, wie ein kluger Kanzler, den ich in vielen Punkten durchaus unterstütze, ein so durch Fakten dementiertes Versprechen geben kann, im großen Stile abzuschieben. Auch seine Sprache finde ich unerträglich, aber das ist einfach Rhetorik weil er die Leute beruhigen will und dann stattdessen irgendwie doch die Asylsuche sichern will.
Das ist nicht funktional, finde ich. Jetzt müssen wir abwarten, ob sich diejenigen durchsetzen, die wirklich Lösung wollen. Ich glaube nämlich, dass es viele im konservativen bis rechten Lager gibt, die keine Lösung wollen, sondern das Thema für ihre Wahlpropaganda nutzen und Ressentiments schüren.
DOMRADIO.DE: Zum Schluss noch die Frage Sie haben vor kurzem begründet, warum Sie trotz aller Zweifel auch noch Mitglied der katholischen Kirche sind. Wo sehen Sie die Rolle der Kirchen in dieser aktuellen Migrationsdebatte und wo würden Sie sich da vielleicht auch noch mehr wünschen?
Schwan: Die Kirchen sind ja im Prinzip besser als die politischen Parteien in dieser Sache und treuer ihrem Auftrag. Ich würde mir wünschen, dass die Kirchen sehr viel stärker gegen die vielen Fehlmeldungen und Falschmeldungen mit ihrer Auotrität angingen.
Sie sollte auch an Strategien arbeiten und ich würde mir wünschen, dass sie meine Strategie unterstützt. Die Strategie sollte nicht sein "Wir halten sie raus und dann haben wir Ruhe". Das wäre unmenschlich, unrealistisch und führt zu nichts.
Deswegen würde ich die gerne die Kirchen bitten, viel mehr öffentlich deutlich zu machen: Was sind wirklich die Zahlen? Warum sind wir jetzt so viele? Natürlich wegen der Aufnahme der Ukraininner und Ukrainer. Aber die wollten wir und wir müssen dafür Geld zahlen und dürfen die Kommunen nicht im Stich lassen.
Aber jetzt so zu tun, als wären wir überlaufen von Nahost-Flüchtlingen, das ist ja einfach nicht richtig. Selbst wenn wir in diesem Jahr etwa 300.000 bekämen bei 83 Millionen Menschen in Deutschland. Das ist einfach lächerlich und kurzsichtig.
Denn wenn wir, wie Olaf Scholz zurecht will, mit dem globalen Süden, zum Beispiel Afrika, ein besseres Verhältnis haben wollen, dann dürfen wir nicht diese ganzen miesen Sachen machen, denn die merken sich diese Staaten sehr genau. Die sind interessiert an einem guten Verhältnis und an Überweisungen ihrer Landsleute in ihr Land, was die direkteste Entwicklungshilfe ist, wie wir wissen, weil es direkt bei den Menschen ankommt.
Alle Staaten, auch der deutsche, unterstützt das im Prinzip. Und jetzt wird hinten an einer Ecke der Unsinn vertreten, dass man die Zuwendungen verringern muss, damit die Geflüchteten nicht 20 oder 30 Euro davon nach Hause schicken. Das ist eigentlich eine unwürdige Diskussion.
Das Interview führte Hilde Regeniter.