Sanft weht der Wind über die Anhöhe bei Neuentempel im Osten Brandenburgs. Zwischen der wogenden Feldfrucht legt Joachim Kozlowski in einer flachen Grube mit einer kleinen Hacke Schicht um Schicht frei, bis er kurz innehält. "Es ist ein Oberschenkelknochen", sagt der 51-Jährige mit der Erfahrung eines Experten.
Überführung der Toten
Kozlowski ist hauptamtlicher "Umbetter". Im Auftrag des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge sorgt er bundesweit und manchmal auch im Ausland dafür, dass die sterblichen Überreste von Soldaten und Zivilopfern geborgen werden und eine würdige letzte Ruhestätte erhalten.
Manchmal, in dem er sie von Dorffriedhöfen zu Kriegsgräberstätten überführt. Zumeist aber in Fällen wie im beschaulichen 130-Seelen-Ort Neuentempel.
Vor dem Bau einer Kabeltrasse hatte ein Unternehmen für Kampfmittelräumung den Streckenverlauf untersucht und wurde fündig. "Das ist hier fast immer so", erklärt Kozlowski, der nur wenige Kilometer entfernt zuhause ist.
Die Niederung des Oderbruchs und die Anhöhen westlich davon gehörten am Ende des Zweiten Weltkriegs zu den größten Schlachtfeldern auf deutschem Boden. Dort starben vom 17. bis 19. April 1945 zehntausende deutsche, polnische und sowjetische Soldaten.
Fast meditativ anmutende Tätigkeit
Was von einem von ihnen nach fast 80 Jahren übrig blieb, legt Kozlowski nun sorgfältig frei, so wie in rund 500 anderen Fällen jährlich. Nach und nach kommen in dem sandigen Boden weitere Knochen und schließlich auch die Schädeldecke zum Vorschein.
Behutsam legt der Umbetter sie Stück für Stück in eine sargähnliche, kleine Wanne. Später wird er die Knochen und gefundenen persönlichen Gegenstände des Toten zu einer kleinen Werkstatt bringen, um sie dort vor der endgültigen Beisetzung zu reinigen und nochmals zu begutachten.
"Man hat viel Zeit zum Nachdenken darüber, was der Krieg anrichtet", sagt Kozlowski über seine fast meditativ anmutende Tätigkeit. Auch das Quietschen eines Suchgeräts in seiner Hand, wie man es von Körperkontrollen auf Flughäfen kennt, erinnert ihn immer wieder daran.
Pazifistischer Job
An diesem Tag zeigt es nicht nur Uniformknöpfe und eine Gürtelschnalle aus Metall und einen Stahlhelm an. Vorsichtig gräbt Kozlowski auch einige Magazine mit Karabinermunition und dann eine Panzerfaust mit dem charakteristischen Sprengkopf aus.
"Keine Gefahr mehr", meint er, nachdem er die rostigen Relikte in Augenschein genommen hat. "Bei einer Tellermine wäre das anders, da würde ich keinen Finger mehr rühren, bevor die Entschärfer da waren."
Ein Waffennarr ist Kozlowski trotz seiner fundierten Kenntnisse der gefährlichen Hinterlassenschaften aber beileibe nicht. Auf die Frage, ob er sich nach all den Jahren mit fast täglichen Exhumierungen als Pazifist sieht, antwortet er mit einem klaren "Ja".
Für die "Kriegsrhetorik" nach dem Beginn der russischen Angriffs auf die Ukraine und nun im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern hat er "keinerlei Verständnis", wie er betont.
"Die Diplomatie muss in jedem Fall Vorrang haben", zieht Koslowski als Resümee seiner Arbeit. Dass er tausenden Toten zu einem würdigen Grab verhelfen konnte, versteht er auch als Dienst für den Frieden.
Knochen und Metallsplitter
Sein Weg zu dieser Lebensaufgabe verlief nicht geradlinig, aber auf gewisse Weise auch konsequent. Als gelernter Industrieelektriker hatte er sich bei der Bundeswehr als Zeitsoldat verpflichtet. Seiner Zeit im militärischen Sanitätsdienst schlossen sich zwölf Jahre als Rettungsassistent beim Deutschen Roten Kreuz an.
Damals lernte er den heute 83-jährigen Erwin Kowalke kennen, seinerzeit ebenfalls einziger hauptamtlicher Umbetter für Deutschland, half ihm bei der Arbeit und bewarb sich im Jahr 2010 erfolgreich als sein Nachfolger.
Seine medizinischen Kenntnisse kommen Kozlowski auch heute zugute. "Der Brustkorb war wohl zertrümmert, vermutlich durch eine Granatexplosion", schließt er aus der Lage der Knochen und Metallsplitter in der Grablege bei Neuentempel.
Sie befinden sich nur einen halben Meter unterhalb des heutigen Oberfläche des Geländes, der seit Jahrzehnten als Acker genutzt wird. Kozlowski vermutet, dass Anwohner den Leichnam dieses Soldaten und weiterer, die nur wenige Meter entfernt liegen, bald nach Ende der Kämpfe in ihrem Schützengraben nur notdürftig verscharrt haben.
"Der Glaube hilft"
Was er von ihnen bergen kann, wird er in den folgenden Tagen sorgfältig dokumentieren. Nach einer weiteren Bearbeitung beim Volksbund wird er die Unterlagen zusammen mit aufgefundenem, Privatbesitz der Toten, wie es ein Ehering sein kann, im Bundesarchiv in Berlin persönlich überbringen.
"Beim Postweg ist mir das Risiko zu groß, dass etwas verloren geht", erklärt Kozlowski den Aufwand. Damit will er auch seinen Respekt vor der Würde der Verstorben bezeugen.
In einer Zeremonie werden die exhumierten Relikte der Gefallenen dann in der sieben Kilometer entfernten Kriegsgräberstätte von Lietzen von Geistlichen sowie Vertretern der Bundeswehr und Kommunalpolitik feierlich beigesetzt. "Der Glaube hilft", sagt Kozlowski knapp zu seinem manchmal belastenden Dienst. Er gehört der evangelischen Kirche an, ohne viel Aufhebens davon zu machen.
Auf der Anhöhe bei Neuentempel ist ihm auch an diesem Tag ein Fund wichtig wie kein anderer. Es ist die Erkennungsmarke des Soldaten. Die ovale Plakette lässt die Identität meist zweifelsfrei feststellen, wenn die Personenkennziffer und Angaben zum Truppenteil darauf wie in diesem Fall noch zu erkennen sind. "Nun können die Nachkommen Gewissheit erhalten, wenn sie daran interessiert sind", freut sich Kozlowski.