DOMRADIO.DE: "3 Sekunden" heißt Ihr Buch, dass gerade im Herder Verlag veröffentlicht wurde. Darin machen Sie sich in kurzen Impulsen Gedanken um die Welt. Sie sind darin teilweise sehr offen und persönlich. Sie sprechen von psychischen Problemen, die in unserer Gesellschaft viel zu sehr totgeschwiegen werden. Sie sagen auch, dass Sie sich inzwischen sicher sind, dass Sie für die Politik eigentlich gar nicht geeignet gewesen sind. Wie viel Überwindung braucht es, mit so persönlichen Gedanken an die Öffentlichkeit zu gehen?
Karl-Theodor zu Guttenberg (Ehemaliger CSU-Politiker und Autor): Ich war mir lange nicht sicher, ob ich das tun will und bin dann aber zu dem Schluss gekommen, dass gerade diese Themen welche sind, die tief in unserer Gesellschaft verankert sind und bei denen in unserem Land oftmals eine ziemliche Verdruckstheit und auch Zurückhaltung herrscht, sich überhaupt darüber zu äußern.
Wenn man beispielsweise den Themenkomplex Depressionen nimmt: Davon sind in unserem Land fast 18 Millionen Menschen betroffen und trotzdem ducken wir uns oftmals noch, suchen nicht die nötige Hilfe, tauschen uns darüber nicht aus. Das ist in meinem Buch nur ein ganz, ganz kleiner Aspekt, den ich hervorgehoben habe, aber einer, der dazu beitragen soll, dass wir einfach nicht immer nur mit dem möglichst perfekten Bild nach außen treten, sondern einfach als Menschen, die wir sind.
Ich habe Freude daran, meine Umgebung, meinen Alltag, Menschen um mich herum zu beobachten. Aus der Beobachtung heraus entstand dann eben sehr, sehr oft auch eine Selbstreflexion. Ich kam dann zu dem Schluss, dass man diese Selbstreflexion nicht zwingend im stillen Kämmerlein behalten muss, sondern dass das vielleicht auch etwas auslösen kann. Eine Diskussion, eine Debatte. Deswegen habe ich die veröffentlicht und das, was an Rückkoppelung und an Antworten kam, hat mich im Grunde bestärkt, dass es nicht falsch war.
DOMRADIO.DE: Sprechen wir über den Elefanten im Raum. 2011 kam für Sie der große Knall, weshalb Sie auch monatelang in den Schlagzeilen gewesen sind: Plagiatsvorwürfe. Sie haben Ihr Amt als Bundesverteidigungsminister abgegeben. Vorher wurden Sie groß gefeiert. Einzelne haben Sie für den potenziellen nächsten Kanzler gehalten. Was hat diese Zeit mit Ihnen gemacht?
Guttenberg: Es ist schon so, dass man in einem Moment, wo man mal so richtig auf die Schnauze fliegt, auch feststellt, dass doch gottlob viele Menschen da sind, die bereit sind, zu stützen, zu unterstützen und die einen mögen, wie man ist und einen nicht einfach nur als öffentliche Figur sehen, sondern den Menschen in einem sehen. Und zum Menschsein gehört, dass man auch gelegentlich scheitert. Das ist, glaube ich, jedem von uns schon passiert. Bei dem einen geschieht es ein bisschen öffentlicher, beim anderen etwas weniger. Und demzufolge hatte ich ein wunderbares Netz, in das ich fallen durfte und konnte.
Rückblickend war es das Beste, was mir passieren konnte, denn ich wollte ohnehin mit der Politik aufhören. Ich hatte das natürlich zu diesem Zeitpunkt nicht geplant, insbesondere mit diesem Thema damals in keinster Weise geplant. Aber es war etwas, das mich in eine Normalität zurückgebracht hat. Das waren ja vollkommen bizarre Momente der Aufmerksamkeit, die man dort erfahren hat. Und da wieder in ein normales Leben zurückkehren zu können, war ein Geschenk.
DOMRADIO.DE: Sie schreiben, dass Sie zu der Erkenntnis gekommen sind, dass Sie für die Politik gar nicht geeignet sind. Was heißt das konkret?
Guttenberg: Es ist ein doch relativ zerstörerischer Rhythmus, dem man dort ausgesetzt ist. Es ist ein Leben, wo man im Grunde zu vier, fünf Stunden Schlaf im Schnitt kommt. Man ist über Jahre hinweg in dauernder Aufmerksamkeit, aber hat kaum Zeit, sich wirklich in der Tiefe mit den großen und auch komplexen Themen zu befassen, die uns als Gesellschaft, aber auf dieser Welt einfach zu beschäftigen und zu befassen haben.
Man ist manchmal 90 Prozent des Tages mit Dingen befasst, die eigentlich gar nichts mit dem eigentlichen Auftrag zu tun haben. Da laufen irgendwelche großen Intrigen und kleinen Intrigen, da sind irgendwelche unfassbar langweiligen Gremiensitzungen, da ist irgendeine investigative Recherche eines Mediums, das einen verfolgt.
Am Ende bleiben oftmals ein paar Minuten, in denen man wirklich die Chance hätte, sich die notwendige Substanz anzueignen. Damit können einige gut umgehen. Und es ist auch gut, dass es Menschen gibt, die sich dafür entscheiden. Bei mir war es so: Ich habe einfach Raubbau an meinem Geist und Körper betrieben und war am Ende meiner Kräfte. Da macht man natürlich auch entsprechende Fehler.
DOMRADIO.DE: Sie betrachten in Ihrem Buch in verschiedenen kleinen Schlaglichtern Anekdoten, die Sie zuerst online veröffentlicht haben. Einerseits die kleinen Dinge, aber auch die großen Gedanken zu unserer Zeit. Es gibt ja eigentlich genug Gründe zur Aufregung im Moment. Es gibt den Krieg, es gibt den Populismus, es gibt die Pandemie, die wir hinter uns gebracht haben. In was für eine Geisteshaltung hat Sie das gebracht?
Guttenberg: Natürlich ist das, was wir derzeit auf dieser Welt gewahren, etwas, das eine Sorge auslöst, manchmal bedrückt es einen. Auf der anderen Seite ist die Fragestellung: Wie reagiert man darauf? Reagiert man da mit der Aufregung, die Sie gerade benannt haben? Reagiert man damit, was man in unserem Land sehr gut und gerne macht, mit Empörung und mit Schuldzuweisungen? Oder erlauben wir uns einfach einmal auch einen Schritt zurück zu gehen und den Blick zu weiten?
Den Blick – das mag paradox klingen – kann man manchmal weiten, indem man ihn erst mal verengt, indem man einfach schlicht irgendeine Begebenheit des Tages betrachtet. Da unterhalten sich zwei, drei Menschen an einem Kiosk – das war auch eine Geschichte in diesem Buch, wo es um das Erdbeben in der Türkei ging – und es stellte sich heraus: Von dieser kleinen Beobachtung können Sie eine Reflektion machen, beispielsweise über die Zuwanderungs- und Integrationsfragen in unserem Land.
Es sollte nie belehrend sein, sondern es sollte eher eine Anregung zum Nachdenken sein. Und das ist die Tonalität, die mir ein bisschen fehlt in unserem Land. Jetzt kann man natürlich sagen: Okay, da müsste man noch viel tiefer gehen und man müsste doch eigentlich all die Dinge aufschreiben, die die Menschen aufregen, die sie entsetzen. Ich glaube, es ist wichtiger, dass man die Tonalität einfach ein Stück runterschraubt und dass wir uns erlauben, auch andere Umgangsformen miteinander zu pflegen. Das kann man mit dem Schreiben ein bisschen anstoßen. Aber dafür braucht es natürlich auch andere Formate.
DOMRADIO.DE: Sie beschreiben die Anekdote, dass ihnen ein Hund vor die Parkbank kackt. Was zieht man denn da für eine Erkenntnis raus?
Guttenberg: Der Hund, der vor die Parkbank kackt, ist letztlich nur ein kleiner Aspekt gewesen. Ich saß an einem Wintertag im Englischen Garten, was ich gelegentlich – nicht nur im Winter – mache, als verlängerte Bürobank so ein bisschen. Seinen Laptop kann man ja heute überall mitnehmen und dort passieren ständig irgendwelche Dinge. Und das war an diesem Nachmittag nur eine von vielen Szenen.
Eine andere Szene war, dass irgendwelche jungen Menschen einer gestürzten älteren Dame, die hingefallen war, sehr liebevoll wieder hoch geholfen haben. Der Hund, der vor der Parkbank gemacht hatte, war einfach ein Element dessen, worüber ich dann zum Schluss dazu kam, auch wieder darüber zu sprechen, wie wichtig auch viele dieser Menschen für unsere Gesellschaft sind – viele von ihnen hatten einen Migrationshintergrund – und dass wir ihnen nicht nur mit Schaum vor dem Munde begegnen können. Das war sozusagen ein kleiner Aspekt in einer doch etwas längeren Geschichte.
DOMRADIO.DE: Sie haben Ihr Buch, obwohl es ja eigentlich ein säkulares Buch ist, im katholischen Herder-Verlag veröffentlicht und sie entstammen einer alten katholischen Adelsfamilie. Welche Rolle spielen denn das Katholisch-sein oder der Glaube für Sie noch ganz persönlich in der Zeit, wo mehr als die Hälfte der Deutschen nicht mehr katholisch oder evangelisch ist?
Guttenberg: Das sind schon teilweise sehr besorgniserregende Zahlen, die wir haben, insbesondere wenn man sie auch noch mit den Austritten koppelt. Die Entwicklung der letzten Jahre war natürlich dramatisch. Ich selbst bin ein gläubiger Mensch und wie es immer so ist mit dem Glauben, durchläuft das auch gewisse Wellentäler.
Ich bin gleichzeitig aber auch einer, der mit der Institution der katholischen Kirche ringt, allerdings in der Form, dass ich insbesondere die christlichen Kirchen in unserem Lande für unverzichtbar halte und letztlich auch für eine Struktur, die sehr viel gutes Potenzial hat. Das ist der Grund, weshalb der Glaube in meinem Leben weiterhin eine große Rolle spielt. Ich bin jetzt nicht einer, der sklavisch all dem hinterherläuft, was von oben herab in die Welt getragen wird, sondern ich bin schon jemand, der im Leben gelernt hat, Dinge auch zu hinterfragen. Auch ich versuche, ein kritischer Kopf zu sein, aber kein kritischer Kopf, der nur verdammt.
DOMRADIO.DE: Sie haben sich mit dem Thema gerade intensiver auseinandergesetzt, weil Sie für RTL eine Fernsehdokumentation dazu produziert haben, die auch gerade erschienen ist. Hat sich Ihr Bild der Kirche dadurch noch mal verändert?
Guttenberg: Man lernt ja Gott sei Dank immer dazu. Täglich, jede Minute, jede Stunde. Natürlich sind viele Facetten hinzugekommen, zu einem Bild, das, wenn man so will, zum einen natürlich durch den familiären Hintergrund, durch eine lebenslange Beschäftigung mit der Institution Kirche geprägt ist. Aber ich war natürlich für den Film gezwungen, etwas tiefer in die Materie einzusteigen.
Mir war wichtig, dabei nicht wie viele andere nur aufzuzeigen, dass man nur ein "skandalgeschütteltes Unternehmen" hat und mit dem üblichen Schaum vor dem Munde nur diese Geschichte zu erzählen. Es gibt viele Elemente, die heute kritisch gesehen werden müssen. Aber gleichzeitig ist es ebenso wichtig, weiterhin das hervor zu haben, was die Kraft der Kirche ausmacht.
Das ist der für mich der wichtigste Gedanke: dass man ein Angebot macht, wenn man eine Dokumentation macht, die nicht nur von einer beißenden Agenda getrieben ist, sondern die auch Anlass zum Nachdenken gibt und wo man aus der Beobachtung heraus auch jedem selbst die Möglichkeit gibt, sich sein Bild zu machen und seine Entscheidung auf dieser Grundlage zu treffen.
DOMRADIO.DE: Denken Sie denn, dass die Kirche in ihrer heutigen Form noch eine Zukunft hat?
Guttenberg: Es ist mit Sicherheit so, dass heute die Yogamatte für viele die Kirchenbank ersetzt. Und an der Yogamatte ist ja zunächst mal nichts Falsches. Ich glaube allerdings nicht, dass das, was oftmals auch in den schönen Elementen einer Meditation und Ähnlichem liegt, komplett das ersetzen kann, was eine Kirche zu leisten imstande ist.
Ich muss Ihnen nicht sagen, was es auch für den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft bedeuten würde, wenn man sich die Kirchen komplett wegdenken würde. Was das für den gesamten Bereich der Krankenversorgung, der Pflege bedeuten würde, für das, was Schulträger schaffen, was Kindergärten anbelangt und so weiter. Sicher, das ist alles unverzichtbar, wichtig in meinen Augen. Trotzdem muss die Kirche auch wahrnehmen und das tut sie offensichtlich auch – allerdings mit viel Streit intern – dass man sich an gewissen Dingen auch neu orientieren muss. Das ist zwingend gegeben, denn wenn man sich die Austrittszahlen anschaut, dann ist das mehr als ein Weckruf. Das ist ein Aufschrei, der mir aber irgendwie in manchem Ohr noch nicht angekommen zu sein scheint.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.